rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Abzweigung von Kindergeld ermessensfehlerhaft, wenn Verwaltungsrichtlinien (DA-Fam-EStG) nicht beachtet werden
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Abzweigung von Kindergeld ist eine Ermessensentscheidung.
2. Die Nichtbeachtung von Verwaltungsrichtlinien (DA-Fam-EStG) ist ein Ermessensfehler, der zur Rechtswidrigkeit des Abzweigungsbescheids führt.
3. Nach 74.1.2 Abs. 2 S. 2 und 3 DA-FamEStG kommt eine Abzweigung nicht in Betracht, wenn der Berechtigte regelmäßig Unterhaltsleistungen erbringt, die den Betrag des anteiligen Kindergeldes übersteigen. Davon ist grundsätzlich auszugehen, wenn das Kind in den Haushalt des Berechtigten aufgenommen worden ist.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 1; DA-FamEStG 74.1.2 Abs. 2, 2 Sätze 2-3
Tenor
1. Der Abzweigungsbescheid vom 15. Februar 2011 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 28. Juli 2011 werden aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
I.
Streitig ist die Rechtmäßigkeit einer Abzweigung von Kindergeld nach § 74 des Einkommensteuergesetzes (EStG) an einen Sozialleistungsträger.
Die Klägerin ist die Mutter der 1986 geborenen (S). S ist schwerbehindert (Grad der Behinderung 100, Merkzeichen G und H) und lebt im Haushalt der Klägerin. S arbeitet in der Unterallgäuer Werkstätten GmbH, einer Werkstätte für behinderte Menschen und erhielt hierfür einen monatlichen Lohn von 225,87 EUR bzw. ab März 2011 einen monatlichen Lohn von 246,35 EUR sowie ein Arbeitsförderungsgeld von 26 EUR. Daneben erhielt S Grundsicherung nach dem SGB XII vom beigeladenen Landratsamt X (Beigeladener), die ab 1. Juli 2009 monatlich 219,77 EUR, ab 1. März 2010 monatlich 236,85 EUR, ab 1. Januar 2011 monatlich 248,35 EUR und ab 1. März 2011 monatlich 222,31 EUR betrug. Ab 1. September 2002 erhielt S überdies Pflegegeld (Pflegestufe II) von der Krankenkasse in Höhe von monatlich 410 EUR, und später im streitigen Zeitraum von monatlich 420 EUR.
Die Klägerin bezog für S Kindergeld. Neben dem Kindergeld für S erhielt die Klägerin Kindergeld für weitere Kinder, so erhielt die Klägerin ab November 2010 für insgesamt sechs Kinder (einschließlich S) monatlich Kindergeld in Höhe von 1.203 EUR, ab Januar 2011 für insgesamt fünf Kinder (einschließlich S) monatlich Kindergeld in Höhe von 988 EUR.
Mit Schreiben vom 12. Oktober 2010 beantragte der Beigeladene die Abzweigung von Kindergeld nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG an sich, weil S Grundsicherung nach dem SGB XII erhalte. In der für S ermittelten Grundsicherungsleistung in Höhe von 236,85 EUR waren Kosten für Unterkunft in Höhe von 36,70 EUR berücksichtigt.
Mit Schreiben vom 18. Oktober 2010 und 5. November 2010 gewährte die beklagte Familienkasse (FK) der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten bzw. beantragten Abzweigung. Mit Schreiben vom 17. November 2011 – auf das wegen der weiteren Einzelheiten verwiesen wird – teilte die Klägerin mit, dass sie an S einen monatlichen Unterhalt in Höhe von insgesamt 510,47 EUR leiste.
Mit Bescheid vom 15. Februar 2011 zweigte die FK Kindergeld in Höhe von jeweils 63,80 EUR monatlich für die Monate November 2010 und Dezember 2010 sowie ab Januar 2011 in Höhe von monatlich 59,20 EUR an den Beigeladenen ab.
Aufgrund der am 20. April 2011 bei der FK eingegangenen Mitteilung des Beigeladenen über die Neuberechnung der Grundsicherung für S, änderte die FK mit Bescheid vom 22. Juli 2011 den Abzweigungsbetrag mit Wirkung ab Mai 2011 auf monatlich 55,22 EUR.
Den gegen den Abzweigungsbescheid vom 15. Februar 2011 eingelegten Einspruch wies die FK mit Einspruchsentscheidung vom 28. Juli 2011 als unbegründet zurück.
Die gegen den Abzweigungsbescheid und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung eingelegte Klage begründet die Klägerin im Wesentlichen wie folgt: Die von der Klägerin erbrachten erheblichen Betreuungsleistungen für S seien als Teil des steuerlichen Existenzminimums mit einem Stundensatz von 8 Euro zu berücksichtigen. Darüber hinaus sei nicht ersichtlich, wie S die anteiligen Unterkunftskosten mit einem Betrag von 36,70 EUR monatlich decken könne. Der Träger der Sozialhilfe müsse nachweisen, dass Eltern die unterstellten Aufwendungen für das Kind tatsächlich nicht erbringen.
Mit Anordnung vom 24. Januar 2012 hat das Gericht u.a. aufgefordert, Nachweise zu den von der Klägerin an S erbrachten Unterhaltsleistungen zu erbringen. Die Klägerin teilte mit, dass es nicht möglich sei, in einem 9-Personen-Haushalt für jede einzelne Person Buch zu führen.
Die Klägerin beantragt,
den Abzweigungsbescheid vom 15. Februar 2011 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 28. Juli 2011 aufzuheben.
Die FK beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist auf die Einspruchsentscheidung und tr...