rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Regelmäßig keine Abzweigung des Kindergeldes bei Aufnahme des behinderten Kindes in den Haushalt des Berechtigten. Selbstbindung der Verwaltung an DA-FamEStG. Vermutung von über dem Kindergeldniveau liegender Aufwendungen der Eltern für das Kind bei Haushaltsaufnahme
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Ermessensentscheidung über die Abzweigung von Kindergeld nach § 74 Abs. 1 EStG ist rechtswidrig, wenn sich die Familienkasse nicht an die in Absch. 74.1.2 Absatz 2 S. 2 und 3 DA-FamEStG niedergelegte und sachgerechter Ermessensausübung entsprechende Verwaltungsrichtlinie hält und einen Teil des Kindergeldes an den Grundsicherungsleistungsträger abzweigt, obwohl der Kindergeldberechtigte, das behinderte Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat, über eigene Erwerbseinkünfte verfügt und nicht von ALG II lebt.
2. Bei der Aufnahme eines Kindes in den Haushalt des Kindergeldberechtigten ist glaubhaft, dass Aufwendungen entstehen, die über das monatliche Kindergeld hinausgehen. Zu berücksichtigen sind die Ausgaben zur Deckung des gesamten Bedarfs, also Wohnen, Essen, Kleidung, Freizeit, Kultur und Erholung und zwar auch dann, wenn sie über das Niveau der Grundsicherung hinausgehen und sie den Bedarfsrubriken, für die Grundsicherung gewährt wird, angehören.
3. Es entspricht einer sachgerechten Ermessensausübung, von einem Einzelnachweis der für das im Haushalt aufgenommene Kind getätigten Aufwendungen durch die Eltern abzusehen und eine Vermutung dahingehend aufzustellen, dass monatliche Aufwendungen getätigt wurden, die die Höhe des Kindergeldes übersteigen. Die Eltern sind nicht verpflichtet, genaue Aufzeichnungen darüber zu führen, welche Ausgaben sie für ihr Kind getätigt haben.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 1; DA-FamEStG Abschn. 74.1.2 Abs. 2 Sätze 2-3; AO § 5
Tenor
1. Der Abzweigungsbescheid vom 18. Januar 2011 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 18. Juli 2011 werden aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin ist die Mutter des am 23. März 1980 geborenen volljährigen Sohnes A, für den sie laufend Kindergeld bezog. A ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 80. In seinen Behindertenausweis ist das Merkzeichen G eingetragen. Die Notwendigkeit ständiger Begleitung ist ebenfalls nachgewiesen. A wohnt im Haushalt der Klägerin. Er arbeitet in den … Werkstätten der Lebenshilfe … und bezog im Zeitraum März bis Juli 2011 ein Arbeitseinkommen von ca. 110 EUR mtl. Ferner erhielt er Pflegegeld der Pflegestufe I, dieses betrug 205 EUR mtl. Zusätzlich erbrachte das Landratsamt B, Amt für Soziale Angelegenheiten (Beigeladener) Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach §§ 41 ff Sozialgesetzbuch – Zwölftes Buch (SGB XII). Die monatliche Grundsicherungsleistung betrug ca. 410 EUR. Die Klägerin erzielte in den Monaten März bis Oktober 2011 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.
Mit Schreiben vom 18. November 2010 beantragte der Beigeladene die Abzweigung des Kindergeldes gemäß § 74 Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) an sich ab Dezember 2010. Nach Anhörung der Klägerin erließ die Beklagte (Familienkasse) den Bescheid vom 18. Januar 2011. Dem Antrag des Beigeladenen wurde teilweise entsprochen. Ab Dezember 2010 werden monatlich 87 EUR an ihn ausgezahlt. Die Klägerin legte dagegen fristgemäß Einspruch ein. Nach Hinzuziehung des Beigeladenen zum Verfahren wurde der Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 18. Juli 2011 als unbegründet zurückgewiesen. Die Familienkasse berief sich im Wesentlichen darauf, dass die Klägerin nur monatliche Kosten in Höhe von 97 EUR nachgewiesen habe. Es seien bei der Ermessensentscheidung keine fiktiven Kosten für die Betreuung des Kindes zu berücksichtigen, sondern nur die tatsächlich entstandenen und belegmäßig nachgewiesenen Aufwendungen der Eltern, die nicht durch die Grundsicherung abgedeckt würden. Mit ihrer Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren, von einer Abzweigung an den Beigeladenen abzusehen, für die Monate ab März 2011 weiter.
Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor:
Die Familienkasse habe das ihr bei der Entscheidung über die Abzweigung zustehende Ermessen nicht bzw. nicht richtig ausgeübt. Nach der in der Einspruchsentscheidung abgegebenen Begründung sei sie davon ausgegangen, dass im Hinblick auf die Zweckbestimmung des Kindergeldes das Ermessen regelmäßig dahingehend auszuüben sei, das bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen eine Abzweigung des Kindergeldes zu erfolgen habe. Damit sei eine Ermessensbetätigung gerade nicht erfolgt, die Entscheidung sei ermessensfehlerhaft und deshalb aufzuheben. Eine teilweis...