Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug aus Vertrauensschutzgesichtspunkten bezüglich von „missing trader” erstellten Rechnungen
Leitsatz (redaktionell)
1. Sind die abgerechneten Lieferungen von einem anderen Unternehmer als dem Rechnungsaussteller erbracht worden und sind die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug daher wegen unzutreffender Rechnungsangaben nicht erfüllt, kann im Billigkeitsverfahren (§§ 163, 227 AO) ausnahmsweise nach dem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Vertrauensschutzes ein Vorsteuerabzug in Betracht kommen, wenn der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer gutgläubig war und alle Maßnahmen ergriffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sich von der Richtigkeit der Angaben in der Rechnung zu überzeugen, und seine Beteiligung an einem Betrug ausgeschlossen ist.
2. Kannte der Rechnungsempfänger, der Hard- und Software vertreibt, bei von sog. „missing traders” abgerechneten, tatsächlich aber von einem anderen Unternehmen erbrachten Wareneinkäufen aufgrund seiner beruflichen Erfahrung und Branchenkenntnis die Gefahr, in ein Umsatzsteuerbetrugsmodell einbezogen zu werden, sind ihm die angebotenen Preise günstig vorgekommen, hat es sich um ein Geschäftsvolumen in erheblichen Umfang gehandelt und war aus dem dem Unternehmer vorliegenden Handelsregisterauszug für die beiden „missing traders” ersichtlich, dass diese Firmen unter neuer Leitung standen und ihren Sitz verlegt hatten, und hat er sich gleichwohl ohne weitere eigene Nachforschungen auf die Angaben seinem ihm langjährig bekannten Ansprechpartners bei diesen Wareneinkäufen verlassen, der dem Unternehmer gegenüber jedoch ausdrücklich als Handelsvertreter eines anderen Unternehmens und nicht als Vertreter der vermeintlichen Lieferanten aufgetreten ist, so hat der Unternehmer, indem er den Angaben des Ansprechpartners ungeprüft vertraut hat, zumindest nicht alle Maßnahmen ergriffen, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden konnten, um sich von der Richtigkeit der Angaben über die Leistenden in den Rechnungen zu überzeugen und seine Beteiligung an einem Betrug auszuschließen; daher steht ihm der Vorsteuerabzug auch nicht im Billigkeitsweg zu.
3. Auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH v. 22.10.2015 (Az.: C-277/14, PPUH Stehcemp, EU:C:2015:719) ist nicht davon auszugehen, dass es zur Gewährung von Vertrauensschutz im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme – bei Nichtvorliegen der materiellen und formellen Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug – ausreicht, wenn keine Steuerhinterziehung vorliegt oder der Steuerpflichtige von der Steuerhinterziehung nichts wusste und auch nichts wissen konnte.
Normenkette
UStG 2007 § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 S. 2, § 14 Abs. 1, 4; AO §§ 163, 227
Nachgehend
Tenor
1. Unter Änderung des Umsatzsteuerbescheids für 2008 vom 14. Juni 2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14. Februar 2014 wird die Umsatzsteuer für 2008 auf … EUR herabgesetzt.
Der Umsatzsteuerbescheid für 2009 vom 14. Juni 2012 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger zu 6/7, der Beklagte zu 1/7.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob der Beklagte (das Finanzamt –FA–) zu Recht den Vorsteuerabzug des Klägers gekürzt und eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen abgelehnt hat.
Der Kläger erzielte in den Streitjahren steuerpflichtige Umsätze aus dem Vertrieb von Hard- und Software. Mit seinen Umsatzsteuererklärungen, denen das FA zustimmte, machte er für 2008 abziehbare Vorsteuerbeträge in Höhe von … EUR und für 2009 in Höhe von … EUR geltend. Dem lagen u.a. Eingangsrechnungen über Spielkonsolen, bezogen von dem unter der Fa. J mit elektronischen Bauteilen und Spielkonsolen handelnden Herrn P, und solche über Computerzubehör und Spielkonsolen, ausgestellt von den Firmen T GmbH und F GmbH & Co. KG, zu Grunde.
Der Kläger kannte Herrn P geschäftlich seit vielen Jahren. Zeitweise hatten beide für dieselben Arbeitgeber gearbeitet (bis 2007 für die Fa. S GmbH; zumindest Anfang 2008 für die FA I Ltd.) bzw. war dieser zeitweise beim Unternehmen des Klägers beschäftigt. Nach den Feststellungen der Steuerfahndung beruhte das Geschäftsmodell des Lieferanten P auf Umsatzsteuerbetrug, wobei dieser die durch die Steuerverkürzung erlangten Liquiditätsvorteile an seine Kunden durch Verkaufspreise weitergab, die ca. 10% unter dem Einkaufspreis lagen. So betrugen die Nettoverkaufspreise der an den Kläger gelieferten Waren im Zeitraum Oktober 2008 bis Januar 2009 ca. 91 % und 96 %, im Zeitraum Februar 2009 bis Januar 2010 ca. 88 % und 92 % des Einkaufspreises.
Die Geschäftsabwicklung hinsichtlic...