Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld für drogenbedingt behindertes Kind bei Zurückstellung der Strafvollstreckung gem. § 35 Betäubungsmittelgesetz (BtMG)
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach der BFH-Rechtsprechung besteht kein Anspruch auf Kindergeld für ein wegen einer Suchterkrankung behindertes Kind, das inhaftiert oder aufgrund richterlicher Anordnung gem. § 64 StGB in einer Entziehungsanstalt untergebracht ist.
2. Etwas anderes gilt jedoch, solange die Vollstreckung einer Haftstrafe gem. § 35 BtMG zugunsten einer Entwöhnungstherapie zurückgestellt ist. Dass es sich um eine stationäre Therapie handelt und das Kind die Behandlung vorzeitig abbricht, ändert in diesem Zeitraum nichts an einer Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt i. S. d. § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG.
3. Eine Aufnahme in den Haushalt des Kindergeldberechtigten i. S. d. § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 EStG ist auch während einer stationären Entwöhnungstherapie im Rahmen der Zurückstellung der Strafvollstreckung gem. § 35 BtMG möglich.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3, § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 3; BtMG § 35
Tenor
1. Unter Aufhebung des Bescheids vom 9. Oktober 2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21. Oktober 2014 wird die Beklagte verpflichtet, Kindergeld für den Enkel der Klägerin für Juni 2014 bis Oktober 2014 festzusetzen.
2. Die Kosten trägt die Beklagte.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob der Klägerin ein Anspruch auf Kindergeld für ihren Enkel (E), geboren […] 1992, für Juni 2014 bis Oktober 2014 zusteht.
Die Klägerin nahm E im April 2012 in ihren Haushalt auf. Im Juni 2012 schloss E eine Ausbildung ab. Die anschließend begonnene Berufsoberschule brach er wegen einer Suchterkrankung ab.
Nach einem amtsärztlichen Zeugnis vom 1. Juli 2013 hatten kurzzeitige stationäre Therapiemaßnahmen noch keine umfassende Besserung der Beschwerdesymptomatik des E erbracht. Bei vorsichtig optimistischer Einschätzung sollte sich sein Gesundheitszustand nach Abschluss der im Mai 2013 begonnenen stationären Langzeittherapie in den nächsten sechs bis acht Monaten so weit stabilisiert haben, dass die Berufsausbildung fortgesetzt oder eine Arbeit aufgenommen werden könne.
Vom […] Januar bis zum […] Juni 2014 befand sich E wegen eines Betäubungsmitteldelikts in Haft (Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten). Die Beklagte (Familienkasse – FK –) hob daraufhin mit Bescheid vom 17. März 2014 die zugunsten der Klägerin bestehende Kindergeldfestsetzung ab März 2014 auf.
Am […] Juni 2014 wurde E in eine Rehabilitations-Einrichtung zu einer stationären Langzeitentwöhnungsbehandlung verbracht, deren Kosten die Deutsche Rentenversicherung übernahm. Die weitere Strafvollstreckung wurde für längstens zwei Jahre ab Betreten dieser Einrichtung zurückgestellt und festgestellt, dass die nachgewiesene Zeit des dortigen Aufenthalts auf die Strafe angerechnet wird (§ 35 Abs. 1 und 3, § 36 Abs. 1 Betäubungsmittelgesetz – BtMG –). Lt. einer ärztlichen Bescheinigung der Einrichtung vom […] Juni 2014 war E aufgrund seiner Drogen-/ Alkoholabhängigkeit seit dem […] Juni 2014 nicht in der Lage, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Therapie bei dieser Einrichtung brach E am […] September 2014 vorzeitig ab und kehrte in die Wohnung der Klägerin zurück.
Mit Hilfe der Klägerin fand E eine ambulante Therapiemöglichkeit ab März 2015. Das Amtsgericht stimmte jedoch dieser Therapie nicht zu. E befand sich seit dem […] April 2015 wieder in Haft.
Am 14. Juli 2014 beantragte die Klägerin Kindergeld für E ab Juni 2014. Die FK lehnte den Antrag mit Bescheid vom 9. Oktober 2014 ab. Die Anspruchsvoraussetzungen zur Berücksichtigung volljähriger Kinder seien nicht erfüllt und es fehle an einer Haushaltsaufnahme.
Der dagegen eingelegte Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 21. Oktober 2014). Die FK hielt an ihrer Auffassung fest. Insbesondere seien keine Nachweise über das Vorliegen einer Behinderung erbracht.
Die Klägerin begründet ihre Klage im Wesentlichen wie folgt:
Der Klinikaufenthalt stehe dem Kindergeldanspruch nicht entgegen. Die Klägerin habe für E Wohnraum vorgehalten und sei für seine finanziellen Bedürfnisse wie Kleidung etc. aufgekommen, habe ihm auf jede mögliche Art der Kommunikation auch während dieser Zeit Fürsorge und Zuwendung zukommen lassen und damit ein enges, familiäres Band begründet. Im Unterhaltsrecht führe ein dauerhafter Klinikaufenthalt nicht zum Wegfall der Unterhaltsansprüche, sondern dieser werde allenfalls um ersparte Aufwendungen gekürzt.
Es liege eine soziale Behinderung des E i. S. d. § 2 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) vor, aufgrund derer er nicht in der Lage sei, seinen Unterhalt selbst zu bestr...