Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeldanspruch eines im Inland selbständig tätigen polnischen Staatsbürgers für seine bei ihrer Mutter in Polen lebenden Kinder

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Kindergeldanspruch eines im Inland selbstständig tätigen polnischen Staatsbürgers für seine in Polen bei ihrer Mutter lebenden Kinder ist nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil die Mutter, die selbst keinen Bezug zur deutschen Sozialrechtsordnung aufweist, die Kinder in ihren Haushalt aufgenommen hat.

2. Art. 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 stellt für den Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen für dieselben Familienangehörigen für denselben Zeitraum Prioritätsregeln auf. Die Anwendung der Prioritätsregeln setzt also eine Anspruchskonkurrenz voraus.

3. Bei der Anwendung von Art. 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 wird nicht darauf abgestellt, was die anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften als Anspruchsvoraussetzung bestimmen, sondern darauf, aufgrund welchen Tatbestands die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 11 bis 16 der VO (EG) Nr. 883/2004 unterstellt ist.

 

Normenkette

EStG § 32 Abs. 1, § 62 Abs. 1, §§ 63, 64 Abs. 2 S. 1; EGV 883/2004 Art. 11 Abs. 3 Buchst. a, Art. 67-68; EGV 987/2009 Art. 60

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 15.06.2016; Aktenzeichen III R 73/11)

BFH (Urteil vom 15.06.2016; Aktenzeichen III R 73/11)

 

Tenor

1. Der Bescheid über die Ablehnung der Festsetzung von Kindergeld für die Kinder M und P vom 10. Juni 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 8. Juli 2010 wird aufgehoben. Die Familienkasse wird verpflichtet, dem Kläger für das Kind M für den Zeitraum Mai bis Juli 2010 Kindergeld zu gewähren. Weiter wird die Familienkasse verpflichtet, den Kläger für das Kind P für den Zeitraum Mai bis Juli 2010 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

Der Bescheid über die Aufhebung der Festsetzung des Kindergeldes für das Kind O vom 29. September 2010 wird dahingehend geändert, dass die Aufhebung der Festsetzung des Kindergeldes ab Juli 2010 aufgehoben wird.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

4. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

5. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

I.

Streitig ist, ob der Kläger für seine Kinder M, geboren am 12. April 1993, P, geboren am 26. November 1996, und O, geboren am 6. Mai 2006, ab Mai bzw. Juli 2010 Anspruch auf Kindergeld hat.

Der Kläger, der polnischer Staatsangehöriger ist, wohnt seit Juli 2008 in Deutschland und ist hier als selbständiger, nicht sozialversicherungspflichtiger Gewerbetreibender tätig.

Die Mutter des Kindes M, die polnische Staatsangehörige ist, wohnt mit dem Kind in Polen und ist nach Angaben des Klägers nichtselbständig erwerbstätig. Mit Bescheid der polnischen Sozialbehörde vom 30. September 2005 wurde der Antrag der Mutter auf polnische Familienleistungen für das Kind M vom 14. Juli 2005 für den Zeitraum September 2005 bis August 2006 wegen Überschreitens der maßgeblichen Einkommensgrenze abgelehnt. Vergleichbare Bescheide ergingen am 2. Oktober 2006 und am 29. August 2007. Mit Schreiben vom 6. Mai 2010 bestätigte die polnische Sozialbehörde, dass die Mutter des Kindes keine Familienleistungen für M bezogen habe. Daraufhin setzte die Beklagte (die Familienkasse) mit Bescheid vom 30. August 2010 für den Zeitraum Juli 2008 bis April 2010 für das Kind M Kindergeld in voller Höhe mit der Begründung fest, dass die Mutter des Kindes aufgrund Überschreitens der Einkommensgrenze keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen habe.

Mit Bescheid vom 10. Juni 2010 hatte die Familienkasse den Antrag auf Kindergeld für M für die Zeit ab Mai 2010 mit der Begründung abgelehnt, dass die Mutter M in ihren Haushalt aufgenommen und somit nach § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorrangig Anspruch auf Kindergeld habe. Ab Mai 2010 seien die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit [VO (EG) Nr. 883/2004] anzuwenden. Danach sei der Kindergeldanspruch jeweils nach dem nationalen Kindergeldrecht des EU-Staates zu beurteilen, dessen Rechtsvorschriften vorrangig anzuwenden seien. Dies seien im Fall des Klägers die deutschen Vorschriften, nach denen er nicht mehr vorrangig kindergeldberechtigt sei.

Die Mutter des Kindes P, die polnische Staatsangehörige ist, wohnt mit dem Kind ebenfalls in Polen und ist nach Angaben des Klägers nichtselbständig erwerbstätig. Ausweislich der Angaben der polnischen Sozialbehörde im Vordruck E 411 vom 17. Dezember 2010, in dem die Familienkasse im August 2010 für den Zeitraum Juli 2008 bis April 2010 Auskunft erbeten hatte, übte die Mutter im Zeitraum 1. Juli 2008 bis 30. A...

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