Entscheidungsstichwort (Thema)
Säumniszuschläge ab 2019 ernstlich zweifelhaft
Leitsatz (redaktionell)
1) Es ist ernstlich zweifelhaft, ob nach dem 31.12.2018 verwirkte Säumniszuschläge verfassungsgemäß sind.
2) Dem Anspruch auf AdV steht nicht das Fehlen eines (besonderen) Aussetzungsinteresses entgegen.
Normenkette
AO § 218 Abs. 2, §§ 238, 233a, 240
Tatbestand
I.
Zu entscheiden ist, ob die Vollziehung eines Abrechnungsbescheides über die Entstehung von Säumniszuschlägen zur Umsatzsteuer April 2021, Juli 2021, August 2021 und September 2021 in voller Höhe auszusetzen bzw. aufzuheben ist.
In der Sache streiten die Beteiligten über die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der in dem Abrechnungsbescheid ausgewiesenen Säumniszuschläge.
Am 21.12.2021 beantragte der Antragsteller die Erteilung eines Abrechnungsbescheides für alle ab dem 01.01.2010 angefallenen Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer.
Daraufhin erteilte der Antragsgegner am 10.01.2022 nach § 218 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) den begehrten Abrechnungsbescheid, in dem die Säumniszuschläge wie folgt ausgewiesen:
Steuerart und Zeitraum |
Entstandene Säumniszuschläge Stand: 04.01.2022 |
Zahlung |
Offen |
Umsatzsteuer April 2021 |
X € |
X € |
0,00 € |
Umsatzsteuer Juli 2021 |
X € |
0,00 € |
X € |
Umsatzsteuer August 2021 |
X € |
0,00 € |
X € |
Umsatzsteuer September 2021 |
X € |
0,00 € |
X € |
Sämtliche, im Abrechnungsbescheid ausgewiesenen Säumniszuschläge sind nach dem 31.12.2018 entstanden.
Gegen den Abrechnungsbescheid legte der Antragsteller am 11.02.2022 Einspruch ein und beantragte zugleich die Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung des Abrechnungsbescheides.
Der Antragsgegner lehnte die begehrte Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung des Abrechnungsbescheides vom 10.11.2022 mit Verfügung vom 04.03.2022 ab und teilte dem Antragsteller zudem mit, der gegen den Abrechnungsbescheid erhobene Einspruch ruhe gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 AO wegen des beim Bundesfinanzhof (BFH) anhängigen Verfahrens zu dem Aktenzeichen (Az.) VII R 55/20.
Mit seinem daraufhin am 09.03.2022 bei Gericht gestellten Aussetzungsantrag macht der Antragsteller geltend, die Vollziehung der im Abrechnungsbescheid ausgewiesenen Säumniszuschläge sei nach dem Beschluss des BFH vom 31.08.2021 in dem Verfahren VII B 69/21, unter Berücksichtigung der bisherigen Spruchpraxis des Finanzgerichts Münster in diversen gleichgelagerten Verfahren sowie vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 08.07.2021 (Az: 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) in voller Höhe auszusetzen bzw. aufzuheben.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
- die Vollziehung des Abrechnungsbescheides über Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer für April 2021 vom 10.01.2022 in voller Höhe aufzuheben,
- die Vollziehung des Abrechnungsbescheides über Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer für Juli 2021, August 2021 und September 2021 vom 10.01.2022 in voller Höhe auszusetzen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Dem Antragsteller fehle das notwendige besondere Aussetzungsinteresse. Soweit ein Aussetzungsantrag mit ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm begründet werde, müsse der Antragsteller ein besonderes Aussetzungsinteresse darlegen, da ansonsten dem Interesse der Allgemeinheit am Vollzug des Gesetzes Vorrang einzuräumen sei. Dies fuße auf dem Geltungsanspruch jedes formell zustande gekommenen Gesetzes. Das Interesse der Antragstellerin gehe nicht über das reine Zahlungssuspensorium hinaus. Demgegenüber würde die Gewährung der Aussetzung der Vollziehung mit Rücksicht auf die Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen zur faktischen Nichtanwendung des § 240 AO führen.
Im Übrigen bestünden keine ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 240 AO.
Die Ausführungen des BVerfG in seinem Beschluss vom 08.07.2021 (Az.: 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) zur Verfassungswidrigkeit der Höhe der Zinsen nach § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO könnten auf die verfassungsrechtliche Bewertung der Höhe der Säumniszuschlage gemäß § 240 AO nicht übertragen werden. Der Normzweck und der Regelungsinhalt des § 240 AO unterschieden sich deutlich von § 233a AO. Bei den Säumniszuschlägen handele es sich nicht um Zinsen, sondern um ein Sanktionsmittel eigener Art. Säumniszuschläge stellten nicht nur eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern und einen Ausgleich für den dadurch entstehenden zusätzlichen Verwaltungsaufwand dar, sondern seien vorwiegend ein Druckmittel eigener Art zur Durchsetzung von titulierten Zahlungsansprüchen. In erster Linie dienten Säumniszuschläge als Druckmittel dazu, den Steuerpflichtigen zur pünktlichen Zahlung zu veranlassen. Hierdurch würden Säumniszuschläge – als höherem Zweck – zugleich zur Funktionsfähigkeit der Verwaltung beitragen und somit dem Allgemeinwohl zu Gute kommen.
§ 238 AO und § 240 AO seien eigenständige, voneinander unabhängige Regelungen, die die Höhe der Zinsen und der Säumniszuschläge zwar jeweils typisierend, aber mit unterschiedlichen Bedingungen (z.B. für volle un...