Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereintritt in die Beratung, Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter, Verhinderung eines Richters
Leitsatz (redaktionell)
1) Eine gefällte, aber noch nicht zugestellte Entscheidung ist grundsätzlich ein noch abänderbares "Internum" des Gerichts. Nach Aufhebung einer solchen Entscheidung kann der Senat erneut in die Beratung des Rechtsstreits eintreten.
2) Eine Entscheidung über den Wiedereintritt in die Beratung erfolgt unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter.
3) Bei Verhinderung eines an der Schlussberatung und Urteilsfällung beteiligten Richters ergeht die Entscheidung über die erneute Beratung ohne Hinzuziehung eines Vertreters in der verbleibenden Besetzung der Richterbank.
Normenkette
FGO § 93 Abs. 3 S. 2, §§ 103, 104 Abs. 1, § 108 Abs. 2 Sätze 3-4, § 5 Abs. 3 S. 2
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob § 9 Nr. 1 Satz 5 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) der Inanspruchnahme der erweiterten Kürzung gemäß § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG entgegensteht.
Die Klägerin ist eine GmbH, die Einkünfte aus der Vermietung und Verwaltung ihres Grundbesitzes erzielt. Sie hat drei Teileigentumsanteile in Gestalt eines Ladenlokals, einer Apotheke und von Seminarräumen im Gebäude A-Straße 2 in B-Stadt inne. Diese Räumlichkeiten überließ sie ihrem alleinigen Anteilseigner, Herrn C. D., entgeltlich zur Nutzung, der in ihnen die F.-Apotheke und den Einzelhandel Lebenswert betreibt.
Der Senat hat im vorliegenden Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung in der Sitzung vom 14.06.2012 ein Urteil gefällt (Klageabweisung) und nachfolgend den Tenor bei der Geschäftsstelle hinterlegt. Der Tenor ist an keinen der Beteiligten bekanntgegeben worden. An der vorangegangenen Beratung haben die im Rubrum bezeicheten Richter und außerdem die Richterin am Finanzgericht Dr. G. teilgenommen.
Im Rahmen der Abfassung der Entscheidungsgründe wurde bemerkt, dass das Finanzamt nicht nur die erweiterte Kürzung gemäß § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG nicht berücksichtigt hat, sondern – bislang ohne erkennbaren Grund – auch keine Kürzung gemäß § 9 Nr. 1 Satz 1 GewStG angesetzt hat. Nach der letztgenannten Norm ist die Summe des Gewinns und der Hinzurechnungen um 1,2 vom Hundert des Einheitswerts des zum Betriebsvermögen des Unternehmers gehörenden Grundbesitzes zu kürzen. Die Vorsitzende hat die Geschäftsstelle daraufhin am 08.08.2012 angewiesen, den Tenor nicht bekanntzugeben.
Entscheidungsgründe
II.
Das am 14.06.2012 gefällte, aber noch nicht wirksam gewordene Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird vertagt.
1. Der Senat kann erneut in die Beratung des Rechtsstreits eintreten.
Nach § 103 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Urteil nur von den Richtern und ehrenamtlichen Richtern „gefällt” werden, die an der dem Urteil zugrunde liegenden mündlichen Verhandlung teilgenommen haben. „Fällung” des Urteils ist die Beschlussfassung über die Urteilsformel nach einer Kollegialberatung. Wirksam erlassen ist ein Urteil erst mit seiner Verkündung gemäß § 104 Abs. 1 FGO bzw. – bei Zustellung des Urteils wie im Streitfall – mit der formlosen Bekanntgabe der Urteilsformel an einen Beteiligten. Solange eine – in diesem Sinn – noch nicht verkündete Entscheidung noch nicht zugestellt ist, stellt sie ein grundsätzlich noch abänderbares „Internum” des Gerichts dar (BFH-Urteil vom 23.10.2003 V R 24/00, BStBl II 2004, 89; BFH-Beschluss vom 08.03.2011 IV S 14/10, BFH/NV 2011, 1161).
Ausgehend von den vorgenannten Grundsätzen ist der Senat im Streitfall noch nicht an seine Entscheidung gebunden und eine erneute Beratung damit möglich.
2. Der Senat entscheidet aus der im Rubrum ersichtlichen Besetzung, d.h. einschließlich der ehrenamtlichen Richter und ohne die wegen einer Erkrankung/Mutterschutzzeit verhinderte Richterin am Finanzgericht Dr. G..
a) Die Entscheidung hat unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter zu erfolgen.
Ergibt sich erst nach Abschluss der Urteilsberatungen – und damit nach Fällung des Urteils – die Notwendigkeit, über eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung oder über einen Wiedereintritt in die Beratung zu entscheiden, so wirken an dieser Entscheidung nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nur die drei Berufsrichter, nicht jedoch die ehrenamtlichen Richter mit (vgl. zur Frage der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung BFH-Beschluss vom 28.02.1996 II R 61/95, BStBl II 1996, 318; BFH-Urteil vom 23.10.2003 V R 24/00, BStBl II 2004, 89). Zur Begründung verweist der BFH auf § 93 Abs. 3 Satz 2 FGO, wonach über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden ist, und auf § 5 Abs. 3 Satz 2 FGO, wonach die ehrenamtlichen Richter bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung nicht mitwirken. Außerdem hat er auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 10.03.1983 7 C 93.83 (Juris) Bezug genommen, in dem das BVerwG ebenfalls die Auffassung vertrat, über einen Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung dürfe ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter entsc...