Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Vereinbarkeit der Anforderungen des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG an die Kindergeldberechtigung Staatsangehöriger eines anderen EU-Mitgliedstaats mit Unionsrecht und Verfassungsrecht
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Ausschlusstatbestand gemäß § 62 Abs. 1a Satz 3 Alt. 1 EStG in Verbindung mit § 2 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU, wonach kein Kindergeldanspruch gegeben ist, wenn es an einem unionsrechtlichen Aufenthaltsrecht fehlt (hier: kein allgemeines Aufenthaltsrecht für Unionsbürger nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38; kein Status als Erwerbstätiger nach Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 mangels ordnungsgemäßer Bestätigung der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit; kein Status als Arbeitssuchender nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU mangels Darlegung der Zurverfügungstellung beim zuständigen Arbeitsamt; kein Aufenthalt zur Stellensuche von maximal sechs Monaten; kein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 mangels ausreichender Existenzmittel), ist unionsrechtlich nicht zu beanstanden.
2. Der Ausschluss vom Anspruch auf Kindergeld gemäß § 62 Abs. 1a Satz 3 Alternative 1 EStG verstößt auch nicht gegen Verfassungsrecht, insbesondere nicht gegen den Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG.
Normenkette
FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nrn. 1, 1a, 5-6; Richtlinie 2004/38/EG Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1; EStG § 62 Abs. 1a S. 3
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kindergeldanspruch der Klägerin nach § 62 Abs. 1a Satz 3 Einkommensteuergesetz (EStG) ausgeschlossen ist.
Die Klägerin ist verheiratet und Mutter von vier im Streitzeitraum Januar 2021 bis März 2021 minderjährigen Kindern. Alle Familienmitglieder sind rumänische Staatsangehörige. Die beiden jüngsten Kinder sind 2016 und 2017 in Großbritannien geboren. Im Juni 2020 zog sie mit ihren Kindern und ihrem Ehemann nach Deutschland.
Der Ehemann der Klägerin schloss am 01.07.2020 einen Arbeitsvertrag über eine Tätigkeit als Reinigungskraft im Umfang von mindestens zehn Wochenstunden ab.
Am 21.07.2020 beantragte die Klägerin Kindergeld und fügte die Geburtsbescheinigungen der Kinder, einen Mietvertrag ab dem 16.05.2020 und eine Vermieterbescheinigung, die Anmeldung beim Einwohnermeldeamt und einen Arbeitsvertrag des Ehemanns mit einer Gebäudereinigungsfirma vom 01.07.2020 sowie auf Nachfrage der Beklagten die Anlage EU, eine Mitgliedsbestätigung der gesetzlichen Krankenversicherung für die Eltern und eine erweiterte Meldebescheinigung bei. Die ebenfalls angeforderte Arbeitgeberbestätigung schickte sie unausgefüllt zurück mit dem Hinweis, der Arbeitgeber des Ehemanns wolle die Bestätigung nicht erteilen, weil auf dem Vordruck ihr, der Klägerin, Name vorausgefüllt eingetragen sei.
Mit Bescheid vom 08.09.2020 lehnte die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für die Monate Juli bis September ab, weil eine Erwerbstätigkeit, die Voraussetzung für die Kindergeldfestsetzung in den ersten drei Monaten nach Einreise sei, nicht festgestellt werden könne.
Die Klägerin reichte daraufhin eine Arbeitgeberbestätigung des Ehemanns und Lohnabrechnungen der Monate Juli bis August 2020 ein.
Am 02.10.2020 machte das JobCenter I einen Erstattungsanspruch gemäß § 102 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch geltend.
Mit Bescheid vom 06.10.2020 setzte die Beklagte Kindergeld für die Monate ab Oktober 2020 für alle Kinder fest. Dieser Bescheid wurde mit Bescheid vom 23.10.2020 im Hinblick auf den Erstattungsanspruch des JobCenters für den Monat Oktober 2020 um eine entsprechende Erläuterung ergänzt; ab November 2020 wurde das volle Kindergeld an die Klägerin ausgezahlt.
Mit Schreiben vom 17.12.2020 forderte die Beklagte weitere Unterlagen an, nämlich unter anderem eine aktuelle Arbeitgeberbescheinigung sowie Bescheinigungen der Schule der schulpflichtigen Kinder und evt. des Kindergartens der jüngeren Kinder.
Die Klägerin reichte daraufhin ein Schreiben der Gebäudereinigungsfirma vom 15.12.2020 ein, mit dem das Arbeitsverhältnis des Ehemanns zum 31.12.2020 gekündigt worden war.
Mit Bescheid vom 23.02.2021 hob die Beklagte die „am 22.10.2020 erfolgte” Kindergeldfestsetzung ab Januar 2021 auf und führe aus, in Deutschland wohnende freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union (EU) könnten ab dem vierten Monat nach Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland nur dann Kindergeld erhalten, solange die Familienkasse die Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) als erfüllt ansehe. Die Voraussetzungen seien ab Januar 2021 nicht mehr erfüllt.
Die Klägerin legte Einspruch ein und führte aus: Ihr Mann habe gearbeitet, auch um die Freizügigkeit zu erhalten. Leider sei es schwierig, eine Arbeitsstelle zu finden. Da das JobCenter Leistungen gewähre, könne sie nicht nachvollziehen, warum kein Kindergeld gezahlt werde.
Mit Einspruchsentscheidung vom 11.03.2021 wies die Beklagte den Einspruch als unbeg...