Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur sachlichen Unzuständigkeit des sog. Inkasso-Service bei Ablehnung eines Erlassantrags und Erlass der Einspruchsentscheidung durch die zuständige Familienkasse

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Ausgangsbehörde und nicht die Rechtsmittelbehörde ist Beklagte iSv § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO.

2. Der Inkasso-Service Familienkasse ist nicht die sachlich zuständige Behörde zur Entscheidung über den Stundungs- bzw. Erlassantrag eines Kindergeldberechtigten, da eine Konzentration der Aufgaben des Erhebungsverfahrens – hier: der Erlass und die Stundung von Kindergeldrückforderungen – beim Inkasso-Service Familienkasse rechtswidrig ist (Anschluss an BFH v. 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712). Eine derartige Aufspaltung der Gesamtzuständigkeit, wonach für Entscheidungen des Festsetzungsverfahrens weiterhin die Wohnsitz-Familienkasse, für Entscheidungen des „Inkasso-Bereichs” hingegen eine andere Familienkasse zuständig sein sollte, ist nicht von § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 11 S. 4 FVG gedeckt.

3. Der Erlass der Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse, die für die Entscheidung über den Stundungsantrag örtlich und sachlich zuständig gewesen wäre, führt nicht zu einer Heilung gemäß § 126 Abs. 2 AO der sachlichen Unzuständigkeit bei einer Entscheidung über den Stundungsantrag durch den Inkasso-Service Familienkasse. Der Erlass des Ablehnungsbescheides von einer sachlich unzuständigen Behörde ist auch nicht nach § 127 AO unbeachtlich.

4. Lässt sich aufgrund eines fehlenden Vermerks über das Datum der Absendung eines Bescheids das Datum der Aufgabe zur Post nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststellen, ist zulasten der beweisbelasteten Behörde die Bekanntgabefiktion gemäß § 122 Abs. 2 1. Halbsatz Nr. 1 AO nicht anwendbar.

 

Normenkette

FVG § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 11 S. 4; AO § 122 Abs. 2 1. Hs. Nr. 1, § 126 Abs. 2, §§ 127, 227; FGO § 63 Abs. 1 Nr. 2

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Ablehnung eines Stundungsantrags von der sachlich zuständigen Behörde erlassen wurde und – falls nein – ob der Fehler der sachlichen Zuständigkeit durch den Erlass einer Einspruchsentscheidung durch die zuständige Behörde geheilt ist.

1. Der Kläger erhält Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

2. a) Mit (mittlerweile bestandskräftig gewordenem) Bescheid forderte die Familienkasse O die Zahlung zu Unrecht gewährter Kindergeldzahlungen auf (Forderung in Höhe von 1.289 €: Kindergeldforderung in Höhe von 864 € und Säumniszuschläge in Höhe von 425 €). Dieser Rückforderungsbetrag beruht darauf, dass die Familienkasse O an die Mutter des Klägers ohne Rechtsgrund Kindergeld ausgezahlt hatte und den Kläger nach dem Tod der Mutter als einer deren Rechtsnachfolger in Anspruch nahm. Hiergegen hatte der Kläger zunächst erfolglos Einspruch eingelegt und sodann Klage erhoben.

b) Nachdem die Bundesagentur für Arbeit – Agentur für Arbeit S-Stadt – (im Folgenden: Inkasso-Service Familienkasse) eine Vollstreckungsandrohung gegenüber dem Kläger ausgesprochen hatte, beantragte dieser mit Schreiben vom 10.03.2022 beim Inkasso-Service Familienkasse, den Forderungsbetrag bis zum Abschluss des- zu diesem Zeitpunkt noch laufenden – Klageverfahrens bezüglich des Rückforderungsbescheids zu stunden und von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen insoweit Abstand zu nehmen (Bl. 224 der Akte des Inkasso-Services Familienkasse).

c) aa) Auf diesen Antrag schrieb der Inkasso-Service Familienkasse die Familienkasse O unter dem 25.03.2022 an. Für die weitere Bearbeitung des Einziehungsbetrages benötige der Inkasso-Service Familienkasse konkrete Angaben zur Entstehung der Forderung nach Maßgabe eines beigefügten Vordrucks. Nach dem Vordruck besteht die Möglichkeit anzukreuzen, ob eine Verletzung der Mitwirkungspflicht vorgelegen hat. Zusätzlich kann zur Begründung angegeben werden, ob falsche beziehungsweise unvollständige Angaben im Antrag enthalten waren. Außerdem können sonstige Gründe genannt werden (Bl. 173 f. der Akte der Familienkasse O).

bb) Die Familienkasse O füllte den Vordruck dahingehend aus, dass sie die Verletzung einer Mitwirkungspflicht durch entsprechendes Ankreuzen bejahte. Unter den sonstigen Gründen führte sie aus: „Keine Mitteilung über den Tod der Mutter.”

cc) (1) Mit Bescheid vom 29.04.2022 wurde der Stundungsantrag, handelnd durch die Sachbearbeiterin Frau L., die nach den Angaben in diesem Bescheid bei der Familienkasse O ihren originären Dienstsitz habe, abgelehnt (Bl. 225 bis 227 der Akte des Inkasso-Services der Familienkasse) den Antrag auf Gewährung einer Stundung ab. Der Bescheid enthält folgende Angaben zur über den Antrag entscheidenden Behörde:

[Briefkopf:]

Bundesagentur für Arbeit, Familienkasse

O, (PLZ) C-Stadt

Familienkasse – Inkasso

Mein Zeichen xyz

(…)

Name: Frau L.

(…)

E-Mail: Familienkasse-Inkasso@arbeitsagentur.de

[Fußzeile der ersten Seite (Auszug):]

Postanschrift

Familienkasse Nordrhein Westfalen Nord

(PLZ) C-Stadt

(…)

[Rechtsbehelfsbelehrung (Auszug):]

(…) Der Einspruch ist bei der im Briefkopf angegebenen Familienkasse ...

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