Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld für einen Zeitraum, der mehr als sechs Monate vor Beginn des Monats liegt, in dem der Antrag auf Kindergeld in Deutschland eingegangen ist. - Revision eingelegt (Aktenzeichen des BFH: III R 19/22)
Leitsatz (amtlich)
1. Ein bei Geburt des Kindes in Rumänien mutmaßlich dort gestellter Antrag auf Familienleistungen kann nach Art. 81 oder 68 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates EG 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 29.04.2004 bzw. Art. Art 60 Abs. 3 der Verordnung EG 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 16.09.2009 nur beim Zusammentreffen von Familienleistungen mehrerer Mitgliedsländer, das heißt nur, wenn ein Bezug zum anderen Mitgliedsland besteht, ein Antrag auf deutsches Kindergeld i.S. der §§ 67, 70 Abs. 1 Satz 2 EStG sein.
2. Die Vorschrift des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG betrifft das Erhebungsverfahren und nicht das Festsetzungsverfahren.
Normenkette
EStG § 70 Abs. 1 S. 2; VO EG 883/2004 Art. 68 Abs. 3, Art. 81; EGRichtl-987/2009 Art. 60 Abs. 3
Nachgehend
Tatbestand
Streitig ist das Kindergeld für B (geb.: 13.02.2013) und C (geb.: 11.05.2015) von Juni 2017 bis August 2017, Juni 2018 bis August 2018 und April 2019.
Die Klägerin ist rumänische Staatsangehörige, die im Klagezeitraum als Saison-Arbeitnehmerin in Deutschland beschäftigt war. Die Kinder lebten im Klagezeitraum in Rumänien.
Die früheren Bevollmächtigten der Klägerin beantragten mit formlosen Schriftsatz vom 15.11.2019 die Festsetzung von Kindergeld für B und C und zwei andere Kinder für das Jahr 2019 und die Folgejahre. Diesem Antrag waren weder ein Steuerbescheid, noch sonstige Unterlagen beigefügt. Bei Antragstellung erfolgte keine Angabe der Monate, für welche Kindergeld beansprucht werde.
Mit verschiedenen weiteren Schreiben (z.B. vom 27.11.2020) legten die damaligen Bevollmächtigten Geburtsurkunden der Kinder, eine Heiratsurkunde der Eltern (beides in rumänischer Sprache), das ausgefüllte Formblatt E 411, eine Familienstandsbescheinigung in rumänischer und deutscher Sprache, Arbeitgeberbescheinigungen, Ausdrucke der deutschen elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen für 2017 bis 2019 mit der Angabe des Beschäftigungszeitraums, einen förmlichen Antrag auf deutsches Kindergeld und Einkommensteuerbescheide des Finanzamts für die Klägerin für 2017, 2018 und 2019 vom 19.01.2021, bei denen in den Erläuterungen ausgeführt wird, dass eine Veranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG durchgeführt wurde, vor.
Mit Bescheid vom 23.04.2021 setzte die Familienkasse Kindergeld u.a. für die beiden Kinder B und C für den Zeitraum von Juni 2017 bis August 2017, von Juni 2018 bis August 2018 und von April bis Oktober 2019 in Höhe eines Unterschiedsbetrages zwischen dem gesetzlichen Kindergeld und der rumänischen Familienleistung zu Gunsten der Klägerin fest. Im selben Bescheid verfügte die Familienkasse unter der Überschrift "Nachzahlung", dass sich hieraus eine Nachzahlung erst für die Zeit ab Mai 2019 ergebe. Zur Erläuterung ist ausgeführt:
"Auf Grund der gesetzlichen Änderung nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG können Anträge, die nach dem 18.07.2019 eingehen, unabhängig vom festgesetzten Zeitraum rückwirkend nur noch zu einer Nachzahlung für die letzten sechs Kalendermonate vor dem Eingang des Antrages bei der Familienkasse führen. Der Anspruch auf Kindergeld nach § 62 bleibt von dieser Auszahlungsbeschränkung unberührt. Ihr Antrag vom 15.11.2019 ist am 15.11.2019 eingegangen."
Den Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 21.05.2021 als unbegründet zurück.
Die Prozessbevollmächtigten haben Klage erhoben.
Zur Begründung haben sie im Wesentlichen vorgetragen:
Der Klägerin stehe ein Anspruch auf Auszahlung des Differenzkindergeldes für die genannten Monate zu, denn die Kinder B (geb. am 13.02.2013) und C (geb. am 11.05.2015) seien nach Inkrafttreten der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates EG 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 29.04.2004 und der Verordnung EG 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 16.09.2009 (01.05.2010) geboren. Bei beiden Kindern sei im Heimatland bei deren Geburt ein Kindergeldantrag gestellt worden. Dieser Kindergeldantrag sei ausreichend für die Beantragung von Kindergeld nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG. Auf den weiteren, in Deutschland gestellten, Kindergeldantrag komme es somit nicht an.
Würde man nur auf den zuletzt in Deutschland gestellten Antrag abstellen, werde der Zweck der VO 833/2004 unterlaufen, der schließlich darin bestehe, erworbene Ansprüche zu sichern. Der BFH habe ausgeführt, dass eine unterbliebene Weiterleitung nicht die Fiktionswirkung des Art. 68 Abs. 3 Buchst b Halbsatz 2, Art. 81 der VO ...