Entscheidungsstichwort (Thema)
Zwang zur Organschaft zweifelhaft
Leitsatz (amtlich)
Es ist ernstlich zweifelhaft, ob durch steuerliche Vorschriften unerwünschte, bzw. nicht vorgesehene zivilrechtliche Folgen herbeigeführt werden dürfen und da der BFH zur Kritik in der Literatur zu seinen Urteilen vom 17. Januar 2002 - V R 37/00 und vom 7. Juli 2005 - V R 78/03 noch nicht Stellung genommen hat, ist der Zwang zur Organschaft generell in Frage zu stellen und eine Aussetzung der Vollziehung geboten.
Normenkette
FGO § 69; UStG § 2 Abs. 2 Nr. 2; EWGRichtl 77/388 Art. 4 Abs. 4, Art. 11, 13 Teil A Abs. 1 lit. g, Art. 132 Abs. 1 lit. g
Tatbestand
Streitig ist, ob der Antragsteller (ASt) als Organträger die Umsatzsteuer für Umsätze der A GmbH schuldet und ob die Umsätze der A GmbH nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g) der 6. EG-Richtlinie (jetzt Art. 132 Abs. 1 MwStSystRL) steuerfrei sind.
Der ASt ist Krankenpfleger. Seit 1995 betrieb er als Einzelunternehmer einen ambulanten Pflegedienst in E. Er hatte Verträge mit Krankenkassen, Pflegekassen und Sozialämtern, wobei er zunächst mit ca. fünf angestellten Pflegekräften sich der klassischen Krankenpflege widmete.
Seit Ende der 90er Jahre kam schwerpunktmäßig die 24-Stunden-Pflege hinzu.
Im Jahr 2003 gründete der Kläger die A GmbH mit Sitz in M, deren alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer er war. Sodann übernahm die GmbH den Geschäftsbereich der 24-Stunden-Pflege.
AM 29.07.2004 schloss die GmbH mit verschiedenen Pflegekassen, Verbänden von Krankenkassen, der Bundesknappschaft sowie der Stadt M als Sozialhilfeträger einen Versorgungsvertrag gemäß § 72 SGB XI. Bereits am 12.08.2003 im Vorgriff auf diesen Versorgungsvertrag und am 21.06.2005 auf der Basis des Vertrages hatte die GmbH Vergütungsvereinbarungen mit den Vertragspartnern getroffen.
Mit Beschluss des Amtsgerichts M vom 09.11.2006 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH eröffnet und Rechtsanwalt E zum Insolvenzverwalter bestellt.
Der Beklagte führte ab Mitte 2006 bei der GmbH eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung durch, deren Ergebnis im Bericht vom 07.02.2007 dargestellt ist. Der Prüfer ist der Auffassung, dass der ASt Organträger der GmbH ist. Er vertritt weiter die Auffassung, dass die Umsätze der GmbH nicht nach § 4 Nr. 16 Buchst. e) UStG steuerfrei sind, da die Schwellenwerte für 2004 nicht erreicht seien. Gemäß Ziffer 14.2 des Prüfungsberichtes hatte im Jahr 2004 der Sozialversicherungsträger bzw. die Sozialhilfe in 287 von insgesamt 998 von der GmbH abgerechneten Fällen mehr als 50% der Pflegekosten übernommen; daraus errechnete sich in einem Anteil von 28,75% eine Kostenübernahme von mehr als 50%.
Der ASt reichte im Verlauf der Prüfung Voranmeldungen für die Monate Januar bis Dezember 2006 ein, in denen er die Umsätze der GmbH erklärte. Er erklärte jedoch, dass mit der Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldungen keine Option für die Organschaft erklärt werde (Schreiben vom 05.06.2005, Bl. 59/60 Fg-Akte).
Der Beklagte erließ am 26.02.2007 einen Bescheid über die Festsetzung einer Umsatzsteuer-Vorauszahlung für das 4. Quartal 2005 entsprechend den Prüfungsfeststellungen.
Der ASt legte gegen diesen Bescheid sowie gegen die Umsatzsteuer-Voranmeldungen für die Monate Januar bis Oktober 2006 Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung (AdV). Der Beklagte lehnte die AdV mit Bescheid vom 03.07.2007 ab.
Am 17.08.2007 erließ er einen Umsatzsteuerbescheid für das Jahr 2005. Über die Einsprüche ist noch nicht entschieden.
Zur Begründung seines Antrages gemäß § 69 Abs. 3 FGO trägt der ASt vor, die Annahme der Organschaft sei rechtswidrig. Zudem seien die Umsätze der GmbH nach Art. 13 Teil A Abs. 1 lit. g) der 6. EG-Richtlinie (jetzt Art. 132 Abs. 1 lit. g) MwStSystRL) steuerfrei.
Der ASt sei nicht Organträger der GmbH. Folglich hätte der Antragsgegner Steuerbescheide gegenüber der GmbH erlassen und die Forderungen zur Insolvenztabelle anmelden müssen.
Das Organschaftsverhältnis folge nicht aus § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG. Zwar spreche der Wortlaut der Vorschrift für die Rechtsfolge der Organschaft, wenn die Eingliederungsmerkmale vorlägen. Bei dieser Auslegung würden jedoch die von der Ermächtigung gemäß Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der 6. EG-Richtlinie gezogenen Grenzen des Umsetzungsermessens überschritten. Durch die unterschiedlichen Rechtsfolgen, je nachdem ob die eingegliederte Gesellschaft eine Kapitalgesellschaft oder eine GmbH & Co KG sei, werde der Grundsatz der Rechtsformneutralität verletzt.
Soweit der BFH in früheren Entscheidungen die zwingende Rechtsfolge der Organschaft angenommen habe, sei diese Rechtsprechung überholt. Europarechtlich ergebe sich vielmehr bei Vorliegen der Eingliederungsmerkmale ein Optionsrecht.
Für die Annahme eines Optionsrechts spreche im Streitfall auch, dass bei zwingender Annahme von Organschaft die „schädlichen Fälle“ im Sinne des § 4 Nr. 16e UStG bei der Organgesellschaft auf die Verhältnisse des Organträgers durchschlagen würden; dies wiederum würde gegen Art. 13 Teil A Ab...