Entscheidungsstichwort (Thema)
Kosten der operativen Entfernung eines Lipödems als außergewöhnliche Belastung
Leitsatz (amtlich)
Für die Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit einer Behandlungsmaßnahme kommt es auf den Stand der Wissenschaft zum Zeitpunkt der Behandlung an.
Für die Wirksamkeit der Liposuktion zur Behandlung eines Lipödems fehlt es an wissenschaftlichen Belegen.
Normenkette
EStG § 33
Tatbestand
Streitig ist, ob Aufwendungen für die operative Beseitigung eines Lipödems (Fettverteilungsstörung) nach § 33 EStG absetzbar sind.
In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2013 machte die unverheiratete Klägerin, die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erzielte, insgesamt 4.676 € als außergewöhnliche Belastungen geltend (Rückseite Bl. 2 der Akte zum Einspruchs- und Klageverfahren Einkommensteuer 2013 - EStA -). Dieser Betrag setzt sich zusammen aus Fahrtkosten (1.277,88 €; Bl. 14 ff. EStA) sowie Aufwendungen für ärztliche Leistungsabrechnungen (3.397,58 €; Bl. 16 EStA). Von den Rechnungsbeträgen berücksichtigte der Beklagte in dem Einkommensteuerbescheid für 2013 vom 11. März 2014 Kosten in Höhe von 2.250,06 € für eine Fettabsaugung bei Lipödem ("Bananenrolle, Oberschenkel und Unterschenkel beiderseits"; Bl. 5 EStA) durch die Gemeinschaftspraxis Dres. med. A. und S. nicht, da die Aufwendungen - mangels nachgewiesener medizinischer Notwendigkeit - nicht zwangsläufig im Sinne des § 33 EStG gewesen seien (Bl. 32 f. EStA).
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin - durch einen Lohnsteuerhilfeverein vertreten -am 14.03.2014 Einspruch ein (Bl. 35 EStA), der damit begründet wurde, dass die streitigen Kosten auf einem Behandlungsbeginn im Jahr 2012 beruhten und im Einspruchsverfahren betreffend 2012 anerkannt worden seien (Bl. 50 EStA). Insoweit sei erneut auf § 64 EStDV hinzuweisen, der regele, wann eine Verordnung eines Arztes oder Heilpraktikers ausreiche und wann ein amtsärztliches Gutachten vorliegen müsse. Da es sich bei der Liposuktion um eine wissenschaftlich anerkannte Methode handele, genüge - wie hier geschehen - die Verordnung durch einen Arzt.
Im Rahmen der Gesamtfallprüfung nach § 367 Abs. 2 AO forderte das Finanzamt die Klägerin auf, die Anzahl der Arbeitstage im Kalenderjahr 2013 nachzuweisen, da sie bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit 235 Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und bei den außergewöhnlichen Belastungen 108 Fahrten geltend gemacht habe (Bl. 36 f. EStA). Der damals bevollmächtigte Lohnsteuerhilfeverein führte hierzu aus, dass - nach Rücksprache mit der Klägerin - ein Nachweis über die Anzahl der Arbeitstage durch den Arbeitgeber nicht erbracht werden könne (Bl. 39 EStA). Aufgrund eines finanzbehördlichen Auskunftsersuchens nach § 93 AO (Bl. 45 EStA) gab der Arbeitgeber der Klägerin (X Versicherung AG) im Schreiben vom 06.08.2014 an, dass die Klägerin im Jahr 2013 an 149 Tagen am Firmensitz anwesend gewesen sei und keine Dienstreisen unternommen habe (Bl. 46 EStA). Entsprechend dieser Auskunft wurde der Einkommensteuerbescheid für 2013 unter dem 08. Oktober 2014 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert und die Einkommensteuer aufgrund geringeren Werbungskostenansatzes bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit höher festgesetzt (Bl. 47 f. EStA).
Im Hinblick auf das beim BFH anhängige Revisionsverfahren VI R 68/14 zur Abzugsfähigkeit der Lipödembehandlung durch Liposuktion wurde das Einspruchsverfahren zunächst zum Ruhen gebracht (Bl. 50, 52 EStA).
Nach Ergehen des BFH-Urteils vom 18. Juni 2015 setzte der Beklagte das Verwaltungsverfahren fort (Bl. 53 EStA) und wies mit Einspruchsentscheidung vom 16. Oktober 2015 den Einspruch der Klägerin aus folgenden Gründen als unbegründet zurück (Bl. 58 ff. EStA):
Der BFH gehe in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Krankheitskosten - ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der Erkrankung - dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwüchsen. Aufwendungen für die eigentliche Heilbehandlung würden typisierend als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt, ohne dass es im Einzelfall der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG an sich gebotenen Prüfung der Zwangsläufigkeit dem Grunde und der Höhe nach bedürfe. Dies sei zur Vermeidung eines unzumutbaren Eindringens in die Privatsphäre geboten. Dies gelte aber nur dann, wenn die Aufwendungen nach den Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde und nach den Grundsätzen eines gewissenhaften Arztes zur Heilung oder Linderung der Krankheit angezeigt (vertretbar) seien und vorgenommen würden, also medizinisch indiziert seien. Die Zwangsläufigkeit krankheitsbedingter Aufwendungen für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel habe der Steuerpflichtige durch eine Verordnung eines Arztes oder Heilpraktikers nachzuweisen (§ 64 Abs. 1 Nr. 1 EStDV). In den abschließend geregelten Katalogfällen des § 64 Abs. 1 Nr. 2 EStDV sei der Nachweis der Zwangsläufigkeit durch ein vor Beginn der Heilmaßnahme oder dem Erwerb des medizinischen Hilfsmittels ausgestelltes amtsärztliches Gutach...