Leitsatz
1. Wurden Umsätze in Änderungsbescheiden zur Umsatzsteuer und Körperschaftsteuer zunächst rechtsirrig als umsatzsteuerpflichtig (und eine Umsatzsteuerverbindlichkeit auslösend) berücksichtigt, darf das Finanzamt, wenn es dem Einspruch des Steuerpflichtigen gegen den Umsatzsteuerbescheid dadurch abhilft, dass es die Umsätze umsatzsteuerfrei belässt, den bestandskräftigen Körperschaftsteuerbescheid nach § 174 Abs. 4 AO einkommenserhöhend in dem Umfang ändern, in dem es zuvor zu einer Einkommensminderung gekommen war.
2. Eine irrige Beurteilung eines Sachverhalts i.S. des § 174 Abs. 4 AO liegt vor, wenn sich dessen Beurteilung nachträglich als unrichtig erweist; ob der dafür ursächliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen liegt, ist unerheblich.
3. Die zutreffende Berücksichtigung desselben Sachverhalts kann auch bei einer anderen Steuerart in Frage kommen, sofern – bezogen auf den zu beurteilenden Sachverhalt – eine sachliche Verbindung zwischen beiden Regelungsgegenständen besteht.
Normenkette
§ 174 Abs. 4 AO, § 4 Nr. 11 UStG, § 247 Abs. 1, § 266 Abs. 1, Abs. 3 C Nr. 8 HGB, § 4 Abs. 2 EStG, § 105 Abs. 2 Nr. 5, § 119 Nr. 6, § 126 Abs. 4 FGO
Sachverhalt
Die Klägerin, eine GmbH, gab in den Streitjahren (2011 und 2012) elektronische Versicherungsbestätigungen (eVB) für die Zulassung von Fahrzeugen an andere Unternehmer weiter. Diese Umsätze sah sie als nach § 4 Nr. 11 UStG umsatzsteuerfrei an.
Das FA folgte dem zunächst und veranlagte die Klägerin u.a. antragsgemäß zur KSt.
Nach einer Außenprüfung im Jahr 2014 vertrat das FA in den USt-Änderungsbescheiden für die Streitjahre vom 12.5.2014 die Auffassung, dass die Umsätze der USt zu unterwerfen seien. In den KSt-Änderungsbescheiden für die Streitjahre vom selben Tag verminderte das FA den Gewinn entsprechend.
Dem Einspruch der Klägerin half das FA mit Änderungsbescheiden vom 26.4.2016 bezüglich der USt für 2011 und 2012 ab. Im Juli 2016 erließ das FA auf § 174 Abs. 4 AO gestützte Änderungsbescheide zur KSt 2011 und 2012, mit denen es im Gegenzug die in den Änderungsbescheiden vom 12.5.2014 vorgenommenen Gewinnminderungen rückgängig machte.
Einspruch und Klage blieben erfolglos. FA und FG (FG Köln, Urteil vom 21.2.2019, 10 K 1074/17, Haufe-Index 13318662, EFG 2019, 1428) bejahten eine Änderungsmöglichkeit gemäß § 174 Abs. 4 Satz 1 AO.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision als unbegründet zurück.
Hinweis
Mit dem Besprechungsurteil klärt der BFH ein "Standardproblem" zahlreicher Betriebsprüfungen: Eine bilanzierende steuerpflichtige Person geht davon aus, sie führe im Jahr 01 umsatzsteuerfreie Umsätze aus. Die Betriebsprüfung meint später, die Umsätze seien umsatzsteuerpflichtig (= Mehrergebnis bei der USt) und passiviert im Gegenzug eine USt-Verbindlichkeit (Minderergebnis bei der Ertragsteuer). Das FA folgt der Auffassung der Betriebsprüfung und setzt im Jahr 04 die USt 01 höher und die Ertragsteuer 01 niedriger fest. Ein danach geführtes Rechtsbehelfsverfahren bei der USt hat Erfolg; die USt 01 wird im Jahr 06 wieder auf den ursprünglichen Stand herabgesetzt. Darf das FA im Gegenzug die Ertragsteuerfestsetzung für das Jahr 01 wieder auf den ursprünglichen Stand erhöhen?
Diese Frage beantwortet der BFH mit ja, denn er hält dies für einen geradezu "klassischen" Fall des § 174 Abs. 4 AO. Das FA hatte den Besteuerungssachverhalt bei der USt und der Ertragsteuer irrig beurteilt. Der USt-Bescheid ist insoweit auch kein Grundlagenbescheid.
Nicht geklärt ist damit, ob der Vorgang in Folgejahren noch Auswirkungen auf die Bilanzen der steuerpflichtigen Person hat. Sie erhielt im Jahr 04 einen USt-Bescheid mit einer höheren USt-Festsetzung, der erst im Jahr 06 wieder aufgehoben wurde. Über die Jahre 04 und 06 hatte der BFH aber nicht zu entscheiden.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 17.3.2022 – XI R 5/19