Rz. 4n
Nach dem m. W. v. 1.1.2016 durch das Steueränderungsgesetz 2015 v. 2.11.2015 geänderten § 44 Abs. 1 S. 3 EStG wurde klargestellt, dass die auszahlende Stelle den KapESt-Abzug "unter Beachtung der im Bundessteuerblatt veröffentlichten Auslegungsvorschriften der Finanzverwaltung" vornehmen muss. Im Bundessteuerblatt veröffentlichte BMF-Schreiben entfalten daher eine Bindungswirkung für die den KapESt-Abzug vornehmende Stelle. Das gilt ausdrücklich auch in den Fällen, in denen das BMF-Schreiben der BFH-Rechtsprechung widerspricht. Denn in der Gesetzesbegründung spricht sich der Gesetzgeber gegen die Rechtsauffassung in der Entscheidung des BFH v. 12.12.2012 aus, wonach ein Kreditinstitut einem sich auf Wortlaut und Zweck des Gesetzes stützenden Widerspruch des Bankkunden Folge leisten und vom Steuerabzug Abstand nehmen müsse, auch wenn ein BMF-Schreiben den Steuerabzug anordnet. Nach den Ausführungen des Gesetzgebers "hätte dieses Urteil in der Praxis zu Verunsicherung geführt". Nach der Gesetzesbegründung folgt daher aus der Änderung des § 44 Abs. 1 S. 3 EStG, dass Kreditinstitute den KapESt-Abzug auch in zweifelhaften Fällen vornehmen müssen und keiner Pflicht unterliegen, die steuerliche Lage – über das BMF-Schreiben hinaus – zu prüfen. Auch nach Ansicht des BFH muss ein Steuerabzug auch in Fällen mit "zweifelhafter" steuerlicher Lage ausdrücklich vorgenommen werden, da aufgrund der Haftungsvorschriften dem zum Abzug Verpflichteten nicht das Risiko auferlegt werden darf, die Steuer aus dem eigenen Vermögen zu entrichten.
Das Anwendungsschreiben zur Abgeltungsteuer vom 19.5.2022 geht unter Bezugnahme auf § 44 Abs. 1 S. 3 EStG ebenfalls von einer Bindungswirkung von BMF-Schreiben aus. Demnach haben die Kreditinstitute als Organe der Steuererhebung die Rechtsauffassung der Finanzverwaltung hinsichtlich des KapESt-Einbehalts anzuwenden (§ 44 Abs. 1 S. 3 EStG).
Aus Sicht der Praxis dient die in 2016 erfolgte und 2022 übernommene Klarstellung in § 44 Abs. 1 S. 3 EStG den auszahlenden Stellen vor allem der Rechtssicherheit. Wendet die auszahlende Stelle die entsprechenden BMF-Schreiben an, kann ihr vom Kunden bzw. Gläubiger der Kapitalerträge keine Pflichtverletzung bzw. ein Verschulden vorgehalten werden, wenn etwa das BMF-Schreiben explizit der BFH-Rspr. widerspricht. Eine Pflichtverletzung i. S. d. § 280 Abs. 1 BGB und ein daraus folgender Anspruch des Kunden auf etwaigen Schadensersatz gegen die auszahlende Stelle kann demzufolge bei Befolgung des BMF-Schreibens nicht vorliegen.
Rz. 4o
Die Änderung des § 44 Abs. 1 S. 3 EStG wird in der geänderten Eingangsformulierung der Neufassung des Anwendungsschreibens zur Abgeltungsteuer deutlich, wonach für die Anwendung der gesetzlichen Regelungen zur Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge seit dem "folgendes gilt". In der Fassung vom 9.10.2012 wurde dagegen lediglich "Stellung genommen". Die Finanzverwaltung hatte eine Bindungswirkung von BMF-Schreiben für den KapESt-Abzug durch die auszahlenden Stellen bereits in den BMF-Schreiben v. 12.9.2013 und 9.12.2014 angenommen und sich dabei auf die Aussagen des Gesetzgebers im Rahmen der Beratungen zum JStG 2010 bezogen, wonach "Kreditinstitute als Organe der Steuererhebung die Rechtsauffassung der Finanzverwaltung hinsichtlich des KapESt-Einbehalts anzuwenden haben".