Rz. 1
Die Regelung stellt das "Gegenstück" zur Zwangsentstrickung gem. § 4 Abs. 1 S. 3 EStG bzw. § 12 Abs. 1 KStG bei Ausschluss oder Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts hinsichtlich eines Wirtschaftsguts dar. Sofern das deutsche Besteuerungsrecht Deutschlands hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung oder Nutzung eines Wirtschaftsguts ausgeschlossen oder beschränkt wird, ist grundsätzlich eine (fiktive) Entnahme gem. § 4 Abs. 1 S. 3 EStG anzunehmen und die entsprechenden Besteuerungskonsequenzen zu ziehen. (s. ausführlich hierzu § 4 EStG Rz. 352ff.). Die Regelung wurde im Zuge der sog. "Europäisierung" des Steuerrechts mit G. v. 7.12.2006 eingeführt und jüngst im Zuge des G. v. 25.6.2021 an die europarechtlichen Vorgaben der sog. ATAD-Richtlinie angepasst. Obgleich diese besondere Form der Entstrickung lediglich grenzüberschreitende Fälle erfasst und entsprechend einen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV darstellt, ist dieser Eingriff zur Wahrung des Territorialitätsprinzips und der Befugnis zur Aufteilung der Besteuerungsgrundlage auf die Mitgliedsstaaten hinreichend gerechtfertigt (Rz. 3ff.). Da eine sofortige Erhebung der Steuer indes als unverhältnismäßig empfunden wird, wird auch von der EU die Möglichkeit zur Stundung der Steuer über einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren gefordert (§ 5 Abs. 2 ATAD). Insoweit sichert § 4g EStG die europarechtliche Zulässigkeit der Entstrickungsbesteuerung.
Rz. 1a
Mit G. v. 26.6.2013 hat der Gesetzgeber den sogenannten "Authorized OECD Approach" (AOA) für die Gewinnermittlung bei Betriebsstätten nach dem sog. "functionally seperate entity approach" in § 1 Abs. 5 AStG kodifiziert und eine entsprechende Rechtsverordnung hierzu erlassen. Vereinfacht soll hierbei der Gewinn der Betriebsstätte wie bei einem selbstständigen Unternehmen nach Maßgabe der ausgeübten Funktionen und der eingegangenen Risiken ermittelt werden. Mit der Gewinnermittlung verbunden ist eine entsprechende Zuordnung von Betriebsvermögen. Diese Zuordnung kann sich nunmehr bei einer Änderung der (Personal-)Funktionen und Risiken der Betriebsstätte entsprechend "verschieben". Insoweit kann es aus Sicht des Gesetzgebers und der Finanzverwaltung zur Entstrickung aufgrund einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse (insbesondere die Übernahme der Betriebsstätte von weiteren Personalfunktionen) kommen.§ 1 Abs. 5 S. 6 AStG stellt insoweit klar, dass § 4g EStG auch in diesen Fällen entsprechend anzuwenden ist. Die praktische Relevanz der Norm hat hiermit einen erheblichen Bedeutungszuwachs erlangt.
Rz. 2
Mit G. v. 8.12.2010 wurde nachträglich bestimmt, dass § 4 Abs. 1 S. 3 EStG auch bereits für Wirtschaftsjahre, die vor dem 31.12.2005 enden, anzuwenden sein soll, sofern ein bisher einer inländischen Betriebsstätte eines unbeschränkt Stpfl. zuzuordnendes Wirtschaftsgut einer ausl. Betriebsstätte dieses Stpfl. zuzuordnen ist (§ 52 Abs. 8b S. 2 EStG a. F.). Diese Änderung stellt indes eine echte Rückwirkung dar, die als verfassungsrechtlich unzulässig zu verwerfen ist.
Da § 4g Abs. 1 EStG die aus einer Entstrickung gem. § 4 Abs. 1 S. 3 EStG bzw. § 12 Abs. 1 KStG resultierende Steuer abmildern soll, müsste die Regelung folglich für frühere Wirtschaftsjahre gelten, als ursprünglich vorgesehen, d. h. auch für Wirtschaftsjahre, die vor dem 31.12.2005 enden. Auch insoweit käme es jedoch zu einer verfassungsrechtlich unzulässigen rückwirkenden Verschärfung der Rechtslage, da bis zur Einführung der Vorschrift die Verwaltungspraxis eine wesentlich großzügigere und umfänglichere Stundungsmöglichkeit vorsah, auf welche die Stpfl. vertrauen durften. Folglich wäre § 4g EStG auch in der aktuellen Fassung erstmalig auf Wirtschaftsjahre anzuwenden, die nach dem 31.12.2005 enden (s. o.). Allerdings sollte m. E. auch für die Geltung des § 4g EStG im Zeitraum v. 1.1.2006 bis zum 13.12.2006 eine echte Rückwirkung bestehen, die als verfassungsrechtlich unzulässig zu qualifizieren ist.§ 4g EStG stellt im Vergleich zur vorherigen Verwaltungspraxis eine Verschärfung der Rechtslage dar. Erschwerend kommt der Entstehungsprozess der Regelung im Gesetzgebungsverfahren (Einfügung erst im Zuge eines Konsultationsprozesses, s. Rz. 4) hinzu, die den "Überraschungseffekt" der Rechtsänderung in einem nicht unerheblichen Maße erhöht haben dürfte. Für bis zu diesem Zeitpunkt realisierte Sachverhalte durfte der Stpfl. noch auf die alte Rechtslage vertrauen. Aufgrund der Differenzen zwischen der Verwaltungspraxis und der letztendlichen Regelung des § 4g EStG besteht zudem keine Klarstellung einer bereits bestehenden Rechtslage, wie vom Gesetzgeber für die Entstrickungsregelung des § 4 Abs. 1 S. 3 EStG behauptet wird. Vor diesem Hintergrund sollte eine Anwendung des § 4g EStG bis zum Tag der Gesetzesverkündung und mithin bis zum 13.12.2006 zu negieren sein. Auf vor Einfügung des § 4g EStG bereits gem. Betriebsstätten-Erlass gebildete und fortbestehende Ausgleichspos...