Leitsatz
1. Einzelsteuergesetzliche Vorschriften zur Verhinderung von Steuerumgehungen, die tatbestandlich nicht einschlägig sind, schließen die Anwendung des § 42 AO nicht aus.
2. Bei der Prüfung des Vorliegens eines Missbrauchs i.S. des § 42 Abs. 2 AO sind diejenigen Wertungen des Gesetzgebers, die den von ihm geschaffenen einzelsteuergesetzlichen Vorschriften zur Verhinderung von Steuerumgehungen zugrunde liegen, zu berücksichtigen.
3. Wird eine "Gewinngesellschaft" auf eine "Verlustgesellschaft" verschmolzen und verrechnet diese die positiven Einkünfte der "Gewinngesellschaft" des Rückwirkungszeitraums mit ihren eigenen Verlusten, dann stellt dies nach der Rechtslage des Jahres 2008 keinen Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten dar. Dies gilt auch dann, wenn die "Gewinngesellschaft" die Gewinne des Rückwirkungszeitraums bereits an ihre frühere Muttergesellschaft ausgeschüttet hatte.
Normenkette
§ 42 AO i.d.F. des JStG 2008, § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 2 Satz 2, § 12 Abs. 3 Halbsatz 2 UmwStG 2006, § 8c KStG
Sachverhalt
Die Klägerin, eine GmbH, gehörte im streiterheblichen Zeitraum zum B Konzern. Obergesellschaft der Klägerin war die B Corporation (B Corp.), die zum ...6.2009 in Insolvenz fiel. Die Klägerin befand sich Ende 2008 in Liquiditätsschwierigkeiten. Es drohte die Insolvenz. Übliche Quellen wie Finanzspritzen der Gesellschafter oder Kredite durch Banken kamen zur Liquiditätsverstärkung nicht in Betracht. Die C bot der Klägerin zum Zwecke der Finanzierung an, eine 100-prozentige Tochtergesellschaft der C, die D GmbH, zu erwerben.
Die D GmbH erzielte in den Jahren 2008 und 2009 Gewinne aus diversen Finanzgeschäften. Es wurde schließlich ein handelsrechtlicher Gewinn von ... EUR realisiert, der am 17.2.2009 in Form einer Vorabausschüttung an die C ausgekehrt wurde. Die D GmbH hielt Anfang 2009 keine Geschäftsanteile, Beteiligungen oder stille Beteiligungen an einer anderen juristischen Person, Personengesellschaft oder einem Joint Venture. Sie beschäftigte auch keine Arbeitnehmer. Ihr Vermögen bestand nach der Vorabausschüttung vom 17.2.2009 laut Bilanz vom 23.2.2009 im Wesentlichen aus liquiden Mitteln i.H.v. ... EUR in Form von Bankguthaben sowie Steuererstattungsansprüchen. Die Steuerrückstellungen beliefen sich auf etwa ... EUR. Das Eigenkapital belief sich auf etwa ... EUR.
Die C veräußerte mit notariellem Vertrag vom 23.2.2009 ihre gesamten Anteile an der D GmbH an die Klägerin. Der Kaufpreis betrug ... EUR. Der von der C erzielte Veräußerungsgewinn blieb nach § 8b KStG steuerfrei.
Mit Verschmelzungsvertrag vom 24.2.2009 wurde die D GmbH auf die Klägerin verschmolzen. Die Verschmelzung erfolgte rückwirkend auf den 1.7.2008 unter Zugrundelegung der auf den 30.6.2008 erstellten Schlussbilanz der D GmbH. Die übertragenen Wirtschaftsgüter der D GmbH wurden darin zu Buchwerten angesetzt und von der Klägerin entsprechend mit dem Buchwert übernommen. Wegen der Ausschüttung für 2008 und der Vorabausschüttung für 2009 wurde ein passiver Korrekturposten in der Bilanz berücksichtigt, sodass sich auch infolge des passiven Korrekturpostens aus der Verschmelzung ein Verschmelzungsverlust i.H.v. etwa ... EUR ergab, der bei der Klägerin steuerlich nicht in Ansatz gebracht wurde.
Die Verschmelzung führte dazu, dass der Klägerin das Einkommen und das Vermögen der D GmbH zum steuerlichen Übertragungsstichtag (1.7.2008) zugerechnet wurde. Das auf den Rückwirkungszeitraum entfallende – positive – Einkommen der D GmbH wurde mit den Verlustvorträgen der Klägerin verrechnet. Das hatte die Auflösung der bei der D GmbH gebildeten Steuerrückstellungen i.H.v. ... EUR zur Folge. Nach Abzug des Kaufpreises von ... EUR gingen der Klägerin wegen des insoweit nicht mehr durch die Rückstellungen überlagerten Aktivvermögens liquide Mittel i.H.v. ... EUR zu.
Das FA ging davon aus, dass das von der D GmbH im zweiten Halbjahr 2008 sowie im Zeitraum vom 1.1.2009 bis zum 23.2.2009 erzielte Einkommen (Rückwirkungszeitraum) von ihr als Steuersubjekt zu versteuern sei, weil der Anteilsübertragung und der sich anschließenden Verschmelzung nach § 42 AO die steuerliche Anerkennung zu versagen sei.
Die dagegen gerichtete Klage war erfolgreich (Hessisches FG, Urteil vom 29.11.2017, 4 K 127/15, Haufe-Index 11638431, EFG 2018, 48).
Entscheidung
Die vom FA eingelegte Revision hatte keinen Erfolg. Der BFH bestätigte im Ergebnis die Klagestattgabe durch das FG. Er ging aus den in den Praxis-Hinweisen genannten Gründen nicht von einem Rechtsmissbrauch aus.
Hinweis
1. Mit dem Urteil hat der I. Senat des BFH erstmals zum Verhältnis spezialgesetzlicher Missbrauchsverhinderungsvorschriften zur allgemeinen Missbrauchsklausel des § 42 AO nach der Neufassung dieser Vorschrift durch das JStG 2008 Stellung bezogen. Wegen der weiten Verbreitung spezialgesetzlicher Missbrauchsverhinderungsvorschriften ist die Entscheidung von großer praktischer Bedeutung.
2."Stein des Anstoßes" ist die zur früheren Fassung des § 42 AO vertretene Auffassung – vor allem des I. Senats...