Prof. em. Dr. Rudolf Federmann
Rz. 56
Die oft umfangreichen und aufwendigen Arbeiten der Bestandsaufnahme, die zudem den laufenden Geschäftsbetrieb beeinträchtigen, lassen sich nicht am Bilanzstichtag durchführen. Gesetzliche Regelungen und kaufmännische Bräuche, die Ausfluss des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit sind, lassen daher in zeitlicher Hinsicht eine Reihe von Inventurerleichterungen zu.
4.2.1 Stichtagsinventur
Rz. 57
Grundsätzlich ist das Inventar zum Beginn des Handelsgewerbes und für den Schluss eines jeden Geschäftsjahres, also zu den Bilanzstichtagen, aufzustellen (§ 240 Abs. 1, 2 HGB). Erfolgt am Bilanzstichtag auch die Inventur, spricht man von einer exakten Stichtagsinventur. Da dies bei kalenderjahrgleichem Geschäftsjahr der Silvestertag ist und ein Tag allenfalls bei Kleinbetrieben für die Inventurhandlungen ausreicht, kann die Inventur nach h. M. zeitlich um +/- 10 Tage zum Bilanzstichtag verlegt werden, ohne dass der Inventur der Charakter einer Stichtagsinventur verlorengeht, sog. ausgeweitete, "zeitnahe" Stichtagsinventur. Damit steht ein Zeitraum von 21 Tagen für die Stichtagsinventur zur Verfügung, was tolerabel ist, weil das Gesetz die Inventarerstellung nicht "am", sondern "zum" Bilanzstichtag verlangt. Allerdings muss dabei sichergestellt sein, dass Bestandsveränderungen zwischen dem Bilanzstichtag und dem Aufnahmetag anhand von Belegen oder Aufzeichnungen ordnungsmäßig berücksichtigt werden. Die Veränderungsnachweise gehören zu den Inventurunterlagen. Diese klassische Methode kommt insbesondere bei Gegenständen mit unkontrollierbarem Schwund, starken Mengendifferenzen und besonders hohem Wert sowie bei fehlender laufender Bestandsführung (Buchführung etc.) in Betracht.
4.2.2 Zeitlich (vor/nach-) verlegte (zeitverschobene) Inventur
Rz. 58
Zur Erleichterung der mit der Inventur verbundenen Belastungen kann nach § 241 Abs. 3 Nr. 1 HGB die Inventur ganz oder teilweise auch auf einen Zeitraum von bis zu 3 Monaten vor oder bis zu 2 Monaten nach dem Bilanzstichtag verlegt werden (zeitlich verlegte Inventur). Als zeitverschobene Inventur wird das auch von der Finanzverwaltung akzeptiert (R 5.3 Abs. 2 EStR). Damit steht ein Zeitraum von 5 Monaten für die Bestandsaufnahme zur Verfügung. Bei kalenderjahrgleichem Geschäftsjahr ist das der Zeitraum vom 1. Oktober bis Ende Februar. Nach Handels- und Steuerrecht ist jedoch Voraussetzung dieser zeitlichen Inventurerleichterung, dass durch GoB-konforme Fortschreibungs- oder Rückrechnungsverfahren sichergestellt ist, dass der am Ende des Geschäftsjahres vorhandene Bestand für diesen Zeitpunkt ordnungsmäßig bewertet werden kann. Die GoB-Konformität verlangt insbesondere eine Gruppenbildung mit homogener Preisentwicklung, Berücksichtigung von Bestandsrisiken durch Pauschalabschläge, objektive Nachprüfbarkeit, Dokumentation und Aufbewahrung der Fortschreibung und Rückrechnung.
Rz. 59
Es werden zunächst die Mengen und Werte auf den vor- oder nachverlegten Inventurstichtag ermittelt, dann eine Abstimmung mit dem Sollbestand der Buchführung am Inventurstichtag vorgenommen, und anschließend wird mittels Wertfortschreibung oder Wertrückrechnung der Bestandswert per Bilanzstichtag ermittelt. Diese Fort- und Rückrechnung erfolgt allerdings i. d. R. nur wert-, nicht mengenmäßig; zur Berücksichtigung spezifischer Gegebenheiten der Vermögensgegenstände, wie z. B. niedrigere Tageswerte, kann die Anpassungsrechnung (Skontration) auch art- und mengenmäßig spezifiziert werden. Das ist insbesondere bei Anwendung des Lifo-Verfahrens notwendig.
Rz. 60
Das folgende Beispiel zeigt, wie zwischenzeitliche Bestandsveränderungen durch Fortschreibungen bzw. Rückrechnungen berücksichtigt werden können, so dass trotz zeitlich verschobener Inventur ein zutreffender Stichtagswert auf das Ende des Geschäftsjahres ermittelt werden kann. Bei großem Zeitabstand stellt die Finanzverwaltung allerdings an die Belege und Aufzeichnungen über die Bestandsveränderungen im Zwischenzeitraum strenge Anforderungen.
Beispiel: Wertmäßige Fortschreibung und Rückrechnung bei zeitlich verlegter Inventur
Zeitlich verlegte Inventur |
vorverlegte Inventur (max. 3 Monate) und Fortschreibung |
nachverlegte Inventur (max. 2 Monate) und Rückrechnung |
je Bestandsgruppe |
Wert der Bestände zum Inventurstichtag (lt. besonderem Inventar) |
Wert der Bestände zum Inventurstichtag (lt. besonderem Inventar) |
+ |
Wert der Zugänge zwischen Inventur- und Bilanzstichtag |
+ |
Wert der Abgänge zwischen Inventur- und Bilanzstichtag |
./. |
Wert der Abgänge zwischen Inventur- und Bilanzstichtag |
./. |
Wert der Zugänge zwischen Inventur- und Bilanzstichtag |
|
|
./. |
Endbestand (lt. Inventur) |
= |
Wert der Bestände zum Bilanzstichtag |
= |
Wert der Bestände zum Bilanzstichtag |
Rz. 61
Die zeitverschobene Inventur ist nicht anwendbar für "besonders wertvolle" Wirtschaftsgüter und für Bestände, bei denen durch Schwund, Verdunsten, Verderb, leichte Zerbrechlichkeit oder ähnliche Vorgänge ins Gewicht fallende unkontrollierbare Abgänge eintreten, ohne dass diese Abgänge aufgrund von Er...