Leitsatz
Wohnen Eltern mit ihren Kindern in Deutschland, arbeiten aber beide in der Schweiz, stehen ihnen Leistungen für ihre Kinder nur nach dem in der Schweiz geltenden Recht zu. Ein Anspruch auf die Differenz zwischen dem in der Schweiz gezahlten und dem höheren Kindergeld nach § 66 EStG besteht nicht.
Normenkette
Art. 13 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a VO (EWG) Nr. 1408/71, Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO (EWG) Nr. 547/72I
Sachverhalt
Der Kläger und seine Ehefrau leben mit drei minderjährigen Kindern in Deutschland und arbeiten in der Schweiz. Der Kläger erhielt in der Schweiz Kinder- bzw. Ausbildungszulagen für Juni 2002 bis September 2003 i.H.v. rund 9.100 SFr. (rd. 5.900 €) nachgezahlt. Außerdem hatte er von der deutschen Familienkasse rd. 6.900 € Kindergeld bezogen. Die Familienkasse hob die Festsetzung des Kindergelds ab 1.6.2002 unter Hinweis auf die europarechtliche Regelung auf.
Der Kläger wandte ein, in Höhe des Differenzbetrags (rd. 1.000 €) habe er einen Kindergeldanspruch nach deutschem Recht. Es verstoße gegen den europarechtlichen Gleichheitssatz, wenn Ehegatten, von denen nur einer als Grenzgänger beschäftigt sei, Differenzkindergeld erhielten, während es bei beiderseitiger Erwerbstätigkeit in der Schweiz versagt werde.
Entscheidung
Der BFH hält die unterschiedliche Behandlung für gerechtfertigt. Er verweist im Wesentlichen auf den Beschluss des BVerfG vom 8.6.2004, 2 BvL 5/00 (BVerfGE 110, 412). Danach rechtfertigt sich die Differenzierung aufgrund des allgemein zur Regelung zwischenstaatlicher Aufteilung anerkannten Ausschließlichkeits- und Beschäftigungslandprinzips. Ziel dieser Kollisionsnormen ist es, auch bei unterschiedlicher Höhe ein Nebeneinander unterschiedlicher Sozialsysteme zu vermeiden.
Das Differenzkindergeld soll vermeiden, dass der nicht im Ausland arbeitende Elternteil dadurch benachteiligt wird, dass der andere Elternteil wegen seiner Beschäftigung im Ausland ein niedrigeres Kindergeld erhält. Sind beide Eltern Grenzgänger, besteht dagegen kein Diskriminierungsschutz.
Hinweis
Nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG scheidet ein Anspruch auf Kindergeld aus, wenn für ein Kind im Ausland Kindergeld oder vergleichbare Leistungen gezahlt werden. Nach deutschem Recht besteht in diesen Fällen, wenn die ausländische Leistung geringer als das deutsche Kindergeld ist, auch kein Anspruch auf den Unterschiedsbetrag, da das Differenz- oder Teilkindergeld nach § 65 Abs. 2 EStG nur bei Zahlungen aus der gesetzlichen Unfall- oder Rentenversicherung (§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG) gewährt wird. Ein Anspruch kann sich jedoch aus europarechtlichen bzw. abkommensrechtlichen Regelungen ergeben.
Seit dem Inkrafttreten des Abkommens EG/Schweiz über die Freizügigkeit am 1.6.2002 wird die Schweiz für die VO 1408/71 mit Durchführungsverordnung (DVO) 547/72 so behandelt, als wäre sie EU-Mitgliedstaat. Da diese gemeinschaftsrechtlichen Regelungen über die Abstimmung der sozialen Sicherungssysteme dem nationalen Recht vorgehen, kommt auch im Verhältnis zur Schweiz die Ausschluss- bzw. Teilkindergeldregelung des § 65 EStG nicht zur Anwendung.
Nach der VO bzw. der DVO gilt daher auch im Verhältnis zur Schweiz Folgendes:
1. Nach dem Beschäftigungslandprinzip geht der Anspruch auf Familienleistungen aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses dem Kindergeldanspruch im Wohnstaat vor. Denn die Familienleistungen orientieren sich grundsätzlich am Leistungsniveau des Staats, in dem der unterhaltsverpflichtete Verdiener arbeitet. Ein Grenzgänger in die Schweiz hat daher keinen Anspruch auf Kindergeld oder Differenzkindergeld in Deutschland, auch wenn das deutsche Kindergeld höher als die Schweizer Familienleistungen sind (Art. 13 Abs. 2 Buchst. a, Art. 73 VO).
2. Der Ausschluss des Anspruchs im Wohnstaat gilt jedoch nur für den Grenzgänger selbst, nicht für weitere im Wohnstaat anspruchsberechtigte Personen, insbesondere nicht für den in Deutschland lebenden anderen Elternteil. Dessen Anspruch ruht bis zur Höhe der dem Grenzgänger im Beschäftigungsstaat geschuldeten Leistungen. Bei einem höheren deutschen Kindergeldanspruch im Vergleich zu den Schweizer Kinder- bzw. Ausbildungszulagen steht dem anderen Elternteil daher in Höhe des Unterschiedsbetrags das Differenzkindergeld zu (Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DVO).
3. Das volle deutsche Kindergeld wird nur gezahlt, wenn der andere Elternteil in Deutschland eine Berufs-/Erwerbstätigkeit ausübt. Dann ruht der Anspruch auf die Familienleistungen im Beschäftigungsstaat bis zur Höhe des deutschen Kindergelds (Art. 10 Abs. 1 Buchst. b DVO). Für diesen Fall ist bei höheren Leistungen in der Schweiz zu prüfen, ob dort ein Differenzanspruch besteht.
4. Sind beide in Deutschland wohnende Elternteile als Grenzgänger in der Schweiz berufstätig, richten sich die Ansprüche auf Familienleistungen ausschließlich nach den Schweizer Rechtsvorschriften (Beschäftigungslandprinzip). Kindergeld- oder Teilkindergeldansprüche nach deutschem Recht bestehen nicht.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 24.3.2006, III R ...