Prof. Dr. Hans-Friedrich Lange
Leitsatz
Die Behinderung eines Kindes ist für dessen Unfähigkeit zum Selbstunterhalt nicht ursächlich, wenn es sich in Untersuchungs- und anschließender Strafhaft befindet, selbst wenn die Straftat durch die Behinderung gefördert wurde.
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, § 52 Abs. 40 Satz 8, § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 EStG
Sachverhalt
Der Kläger ist der Vater von S, der infolge einer psychischen Erkrankung behindert ist.
S tötete vorsätzlich, jedoch im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit, eine Person. Das Landgericht X verurteilte S, der noch am Tag der Tat festgenommen und in Untersuchungshaft genommen worden war, wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe. S trat die Haft an.
Der Kläger beantragte für den Zeitraum der Inhaftierung Kindergeld für S. Die Familienkasse lehnte den Antrag ab.
Nach einem im Verlauf des anschließenden finanzgerichtlichen Verfahrens eingeholten fachpsychiatrischen Gutachten war S infolge seiner Behinderung außerstande, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen.
Das FG bejahte den Anspruch auf Kindergeld, weil S auch während seiner Inhaftierung infolge seiner Behinderung außerstande gewesen sei, selbst für seinen Lebensunterhalt i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu sorgen. Die Behinderung des S sei eine erhebliche Mitursache für seine Tat gewesen, sodass auch die anschließende Inhaftierung erheblich durch die Behinderung verursacht worden sei (FG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26.2.2013, 4 K 409/09, Haufe-Index 5062897, EFG 2013, 1596).
Entscheidung
Der BFH hob die Vorentscheidung auf und wies die Klage ab.
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG stellt nicht allein darauf ab, dass ein Kind körperlich, geistig oder seelisch behindert ist. Vielmehr muss es "wegen" seiner Behinderung außerstande sein, sich selbst zu unterhalten; die Behinderung muss somit ursächlich für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt sein.
Während der Haft ist ein Kind unabhängig davon, ob es behindert ist oder nicht, grundsätzlich außerstande einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. In diesen Fällen steht nicht die Behinderung eines Kindes der Ausübung einer Erwerbstätigkeit zur Bestreitung des Lebensunterhalts entgegen, sondern die Inhaftierung.
Treten – wie hier mit der Inhaftierung – andere, die behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt insoweit überholende Ursachen hinzu, ist Kindergeld selbst dann zu versagen, wenn die Begehung der zur Inhaftierung führenden Straftat behinderungsbedingt ist.
Hinweis
Anspruch auf Kindergeld für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, besteht unter weiteren Voraussetzungen u.a. dann, wenn das Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten und die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahrs eingetreten ist (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 30.4.2014 – XI R 24/13