Leitsatz
1. Hat das FA trotz der nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO eingetretenen Verfahrensruhe eine Einspruchsentscheidung erlassen, so kommt eine isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung durch das FG dann nicht in Betracht, wenn der Kläger vor dem FG über die Aufhebung der Einspruchsentscheidung hinaus eine materiell-rechtliche Entscheidung in der Sache beantragt.
2. Aufgrund des Urteils des BVerfG vom 9.3.2004, 2 BvL 17/02 (HFR 2004, 471) sind in den Jahren 1997 und 1998 entstandene Spekulationsverluste aus Wertpapiergeschäften steuerrechtlich nicht zu berücksichtigen.
Normenkette
§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG , § 23 Abs. 3 EStG , § 363 Abs. 2 Satz 2 AO
Sachverhalt
Die Kläger erzielten im Streitjahr 1998 neben anderen Einkünften Spekulationsverluste aus Wertpapiergeschäften, die das FA nicht einkommensmindernd berücksichtigte. Im anschließenden Einspruchsverfahren beantragten sie hilfsweise das Ruhen des Einspruchsverfahrens.
Das FA ging davon aus, dass das Einspruchsverfahren nicht nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO ruhte und wies den Einspruch zurück. Im Klageverfahren machten die Kläger geltend, das Verbot der Verrechnung von Spekulationsverlusten sei verfassungswidrig. Ferner rügten sie die Verletzung des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO durch das FA. Das FG wies die Klage ab; dagegen richtet sich die Revision der Kläger.
Entscheidung
Die Revision hatte keinen Erfolg. Der nicht nur als Hilfsantrag gestellte Klageantrag auf Verlustberücksichtigung schließe eine nur isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung wegen Missachtung des § 363 Abs. 3 aus; im Übrigen sei die Rechtsgrundlage für eine Berücksichtigung der streitigen Verluste wegen Wegfalls der Steuerbarkeit von Einkünften aus Wertpapiergeschäften in den Streitjahren entfallen.
Hinweis
1. Nach § 363 Abs. 3 AO kann u.a. die Rechtswidrigkeit des Widerrufs einer Verfahrensruhe durch Klage gegen die Einspruchsentscheidung geltend gemacht werden, mit der Folge, dass es in derartigen Fällen zu einer isolierten Aufhebung der Einspruchsentscheidung kommen kann (vgl. Klein/Brockmeyer, Abgabenordnung, 8. Aufl. 2003, § 363 Rz. 29). Eine solche Entscheidung kommt indessen nicht in Betracht, wenn der Kläger – wie im Streitfall – vor dem FG über die Aufhebung der Einspruchsentscheidung hinaus – unbedingt, das heißt nicht lediglich in der Form eines Hilfsantrags – eine materiell-rechtliche Entscheidung in der Sache beantragt. Dann hat das FG über diesen Antrag zu entscheiden (vgl. § 40 Abs. 2, § 65 Abs. 1 Sätze 2 und 3, § 96 Abs. 1 FGO).
2. Der von den Klägern begehrte Verlustausgleich scheidet im Streitfall schon deshalb aus, weil das BVerfG mit Urteil in HFR 2004, 471 die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 für nichtig erklärt hat, soweit sie Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren betrifft. Aufgrund dieser Nichtigerklärung ist die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG a.F. insoweit weggefallen. Damit ist für den Ansatz von Spekulationsgewinnen wie auch von Spekulationsverlusten keine Rechtsgrundlage mehr vorhanden.
Dieser Rechtsfolge steht der Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht entgegen. § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO begrenzt aus Vertrauensschutzgründen nur die Aufhebung oder Änderung von Steuerbescheiden, nicht den hier streitigen Erlass eines Erstbescheids. Für einen Schutz des Vertrauens in den Bestand des nichtigen § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG fehlt es schon an einer Vertrauensgrundlage, weil der Verlustausgleich nach § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG a.F. ausdrücklich ausgeschlossen war und erst nach dem zu § 22 Nr. 3 Satz 3 EStG a.F. ergangenen Beschluss des BVerfG in BVerfGE 99, 88 die Diskussion einsetzte, ob diese Entscheidung des BVerfG auf die Berücksichtigung von Spekulationsverlusten übertragbar ist.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 14.7.2004, IX R 13/01