Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
Eine Anlaufhemmung gem. § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO kommt in den Fällen des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG i.d.F. des JStG 2008 nicht in Betracht. Dies gilt auch bei Anwendung der Übergangsregelung des § 52 Abs. 55j S. 2 EStG i. d. F. des JStG 2008 (Abgrenzung zur Senatsentscheidung vom 15.01.2009, VI R 23/08, BFH/NV 2009, 755, BFH/PR 2009, 253).
Normenkette
§ 169, § 170 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO, § 46 Abs. 2 Nr. 8, § 52 Abs. 55j S. 2, § 25 Abs. 3 EStG 2008, § 56 EStDV
Sachverhalt
K reichte für die in den Jahren 2002 und 2003 ausschließlich erzielten Lohneinkünfte am 13.11.2008 beim FA die ESt-Erklärungen ein. Das FA lehnte eine ESt-Veranlagung ab, weil die Antragsfrist von zwei Jahren versäumt und auch bis zum 28.12.2007 keine Steuererklärung eingereicht worden sei. Die Klage blieb erfolglos (FG Baden-Württemberg, Urteil vom 04.05.2010, 4 K 478/10, Haufe-Index 2370246, EFG 2010, 1611).
Entscheidung
Der BFH bestätigte, wie unter Praxis-Hinweisen erläutert, die Vorentscheidung des FG.
Hinweis
Der Besprechungsfall steht im Kontext mit den jüngsten Urteilen zu § 46 Abs. 2 Nr. 8 und § 52 Abs. 55j S. 2 EStG (BFH, Urteil vom 12.11.2009, VI R 1/09, BFH/NV 2010, 514, BFH/PR 2010, 135; BFH, Urteil vom 15.01.2009, VI R 23/08, BFH/NV 2009, 755, BFH/PR 2009, 253). Hier ist die entscheidungserhebliche Grundfrage, ob auch dann die Anlaufhemmung § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO zur Anwendung kommt, wenn keine Pflicht zur ESt-Erklärung besteht.
1. Liegen nur Lohneinkünfte vor und greift kein weiterer Tatbestand des § 46 Abs. 2 EStG, wird eine ESt-Veranlagung nur auf Antrag durchgeführt (§ 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2008). Nachdem für diese "Antragsveranlagung" die ehemals dafür geltende zusätzliche Voraussetzung der zweijährigen Antragsfrist (nach Anrufung aber ohne Entscheidung des BVerfG) entfallen war und im Streitfall auch nicht diese alte Rechtslage galt (§ 52 Abs. 55j S. 2 EStG, vgl. dazu BFH, Urteil vom 12.11.2009, VI R 1/09, BFH/NV 2010, 514, BFH/PR 2010, 135), konnte dieser Antrag bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung gestellt werden. Die Festsetzungsfrist der ESt beträgt vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Nr. 2 AO), beginnt mit Ablauf des Kalenderjahrs der Steuerentstehung (§ 170 Abs. 1 AO) und war daher hier für die ESt 2002, 2003 zum Ende der Kalenderjahre 2006, 2007 abgelaufen. Da die Anträge im Urteilsfall erst in 2008 gestellt wurden, hätte K nur noch eine Fristhemmung (hier: Anlaufhemmung) helfen können.
2. Grundsätzlich hemmt § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO den Fristlauf bis zur Einreichung der Erklärung. Allerdings nur dann, wenn eine Steuererklärung einzureichen ist. Hier bestand keine solche Steuererklärungspflicht (§ 25 Abs. 3 EStG i.V.m. § 56 EStDV), also war die Antragsfrist für K in 2008 verstrichen. Die gegen diese unterschiedliche Behandlung der Anlaufhemmung bei Pflicht- und Antragsveranlagung mitunter erhobenen verfassungsrechtlichen, insbesondere gleichheitsrechtliche Bedenken (Art. 3 Abs. 1 GG) teilte der BFH im Ergebnis nicht. Zwischen Pflicht- und Antragsveranlagung bestehen Sachunterschiede, die eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. So soll insbesondere durch eine späte Einreichung der Steuererklärung nicht die der Finanzbehörde zur Verfügung stehende Bearbeitungszeit verkürzt werden (BFH, Urteil vom 06.06.2007, II R 54/05, BFH/NV 2007, 2157, BFH/PR 2008, 33). Daher hob der BFH etwa auch eine entgegenstehende und mit ausführlichen verfassungsrechtlichen Erwägungen begründete Entscheidung des Sächsischen FG (FG Sachsen, Urteil vom 23.03.2010, 6 K 2168/08, Haufe-Index 2364355) in einer Parallelentscheidung auf (BFH, Urteil vom 14.04.2011, VI R 77/10).
3. Auch die Grundsätze des vorangegangenen Urteils zu § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG (BFH, Urteil vom 15.01.2009, VI R 23/08, BFH/NV 2009, 755, BFH/PR 2009, 253) konnten K nicht helfen. Im Sonderfall dort wäre die Klage mit der Rechtsprechung des VI. Senats zu § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG a.F. (negative Summe der Nebeneinkünfte mehr als 800 DM) erfolgreich gewesen (vgl. BFH, Urteil vom 21.09.2006, VI R 52/04, BFH/NV 2006, 2359, BFH/PR 2006, 475), weil zeitliche Zufälligkeiten von Rechtsprechungsänderungen und nachfolgenden Reaktionen des Gesetzgebers nicht über Anträge und Klagen auf Durchführung der ESt-Veranlagung entscheiden sollten.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 14.04.2011, VI R 53/10BFH, Urteil vom 14.04.2011 – VI R 53/10