Leitsatz

1. Gemäß § 62 Abs. 1a Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) besteht bei Kindergeldfestsetzungen für nach dem 31.07.2019 beginnende Zeiträume eine uneingeschränkte Prüfungskompetenz der Familienkasse für die in § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG vorausgesetzte Freizügigkeitsberechtigung des Anspruchstellers.

2. Eine eigenständige Prüfungspflicht der Familienkasse besteht auch dann, wenn die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts gemäß § 5 Abs. 4 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern festgestellt hat. Der Bescheid der Ausländerbehörde entfaltet bei der Prüfung des Kindergeldanspruchs keine (echte) Tatbestandswirkung.

3. Eine teleologische Reduktion des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG kommt nicht in Betracht.

 

Normenkette

§ 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 1a Sätze 3 und 4, § 63 Abs. 1 Nr. 1 EStG, § 2 Abs. 2 Nr. 1, § 5 Abs. 4 FreizügG/EU, § 18f AZRG

 

Sachverhalt

Die Klägerin ist rumänische Staatsangehörige und wohnt seit April 2019 in Deutschland. Sie war ab November 2021 bei einer deutschen Zeitarbeitsfirma beschäftigt und verdiente von November 2021 bis Februar 2022 zwischen 426 EUR und 1.158 EUR im Monat, wobei der Verdienst anfangs aufgrund eine Corona-Maßnahme geringer ausfiel. Die zunächst erfolgte Kindergeldfestsetzung hob die Familienkasse ab Dezember 2021 auf, nachdem die Ausländerbehörde im November 2021 den Verlust der Freizügigkeitsberechtigung für die Klägerin festgestellt hatte. Im April 2022 wurde die Freizügigkeitsberechtigung mit Wirkung ex nunc wieder zuerkannt. Die Familienkasse bewilligte Kindergeld erneut ab April 2022. Für Dezember 2021 bis März 2022 wurde der Kindergeldanspruch dagegen abgelehnt. Der Klage gab das FG (FG Münster, Urteil vom 28.2.2023, 15 K 1527/22 Kg, Haufe-Index 16132142) statt.

 

Entscheidung

Die Revision der Familienkasse hatte keinen Erfolg. Der BFH entschied, dass die eigenständige Prüfung durch die Familienkasse auch den Fall erfasse, dass die Ausländerbehörde den Verlust der Freizügigkeitsberechtigung festgestellt habe. Der Wortlaut der Norm enthalte die von der Familienkasse gewünschte Einschränkung nicht. Auch unter Heranziehung der Gesetzesmaterialien sei eine planwidrige Lücke, die eine telelogische Reduktion des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG rechtfertige, nicht ersichtlich. Da die Klägerin nach den Feststellungen des FG die Arbeitnehmereigenschaft erfülle, sei sie freizügigkeitsberechtigt i. S. d. § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG und damit kindergeldberechtigt.

 

Hinweis

1. Durch das Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch vom 11.7.2019 (BGBl I 2019, 1066) wurde in § 62 EStG ein neuer Abs. 1a eingefügt. Danach hat ein Staatsangehöriger eines anderen EU-/EWR-Mitgliedstaates für die ersten drei Monate ab Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts keinen Anspruch auf Kindergeld, es sei denn er weist nach, dass er inländische Einkünfte i. S. d. § 2 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 EStG mit Ausnahme von Einkünften nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG erzielt (§ 62 Abs. 1a Sätze 1 und 2 EStG). Dieser dreimonatige Anspruchsausschluss für neu zugezogene, nicht erwerbstätige Unionsbürger stellt nach EuGH, Urteil vom 1.8.2022, C-411/20, Haufe-Index 15471325, allerdings einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004 dar und ist daher unionsrechtswidrig.

2. Nach Ablauf des Dreimonatszeitraums besteht Anspruch auf Kindergeld, es sei denn, die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügigG/EU liegen nicht vor oder es sind nur die Voraussetzungen des § 2 Absatz 2 Nr. 1a FreizügigG/EU erfüllt, ohne dass vorher eine andere der in § 2 Abs. 2 FreizügigG/EU genannten Voraussetzungen erfüllt war (§ 62 Abs. 1a Satz 3 EStG). Diese auf bestimmte Freizügigkeitsberechtigungen beschränkte Kindergeldberechtigung wird von dem vorgenannten EuGH-Urteil nicht tangiert. Die Vorschrift ist anwendbar auf Zeiträume, die nach dem 31.7.2019 beginnen (§ 52 Abs. 49a Satz 1 EStG).

3. Eine der von § 2 Abs. 2 FreizügG/EU genannten Personengruppen, die unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt ist, ist die Gruppe der Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU). Der Arbeitnehmerbegriff ist weit auszulegen und umfasst alle, die eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausüben, wobei nur Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Die Arbeitnehmerschaft kann auch dann erfüllt sein, wenn der erzielte Lohn unter dem Existenzminimum des betreffenden Mitgliedstaats bleibt.

4. Die Prüfung, ob die Voraussetzungen der in § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG vorausgesetzten Freizügigkeitsberechtigung nicht gegeben sind, führt die Familienkasse in eigener Zuständigkeit durch (§ 62 Abs. 1a Satz 4 EStG). Mit dieser Norm wollte der Gesetzgeber eine entgegenstehende Rechtsprechung des BFH (BFH, Urteil vom 15.3.2017, III R 32/15, BFH/NV 2017, 1262, BStBl II 2017, 963) aushebeln, wonach die Fe...

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