Leitsatz
Dem Großen Senat wird gem. § 11 Abs. 2 FGO folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
Verlängert sich die Dreitagefrist zwischen der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post und seiner vermuteten Bekanntgabe (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO), wenn das Fristende auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder Sonnabend fällt, bis zum nächstfolgenden Werktag?
Normenkette
§ 108 Abs. 3 AO , § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO
Sachverhalt
Das FA wies Einsprüche des Klägers gegen Steuerbescheide zurück. Die Einspruchsentscheidung ist nach dem in den Steuerakten enthaltenen Abgangsvermerk am Donnerstag, dem 18.12.1997, zur Post gegeben worden. Die dagegen erhobene Klage ging beim FG am Donnerstag, dem 22.1.1998, ein. Zur Rechtzeitigkeit der Klageerhebung führte der Kläger aus, die Einspruchsentscheidung sei seinem Bevollmächtigten tatsächlich erst am 22.12.1997 zugegangen und mit dem Eingangsstempel der Kanzlei versehen worden. Denn am vorangegangenen Freitag, dem 19.12.1997, habe die Einspruchsentscheidung morgens noch nicht im Postfach des Bevollmächtigten gelegen.
Das FG wies die Klage als unzulässig ab, weil die Einspruchsentscheidung gem. § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO als am Sonntag, dem 21.12.1997, bekannt gegeben gelte.
Entscheidung
Nach Auffassung des IX. Senats ist der Dreitagezeitraum des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO eine "Frist" i.S.d. § 108 Abs. 3 AO. Denn sie regele nicht nur den fiktiven Zeitpunkt der Bekanntgabe, sondern erfasse im Hinblick auf die besonderen Substanziierungspflichten des Steuerpflichtigen bei Fristversäumnis den gesamten Dreitagezeitraum.
Zumindest sei eine entsprechende Anwendung der Vorschrift geboten. Dies erfordere der Zweck der Regelung, die Sonn- und Feiertagsruhe zu wahren sowie die in Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung übliche Fünftagewoche zu berücksichtigen. Andernfalls würde die mit dem (vermuteten) Zugang beginnende Rechtsbehelfsfrist, die der Steuerpflichtige als überlegungs- und Bearbeitungsfrist grundsätzlich voll nutzen dürfe, unzulässig verkürzt.
Die Anwendung des § 108 Abs. 3 AO auf die Dreitagefrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO entspreche auch dem Zweck der Zugangsvermutung, für das steuerrechtliche Massenverfahren eine wenig verwaltungsaufwendige, praktikable, möglichst rechtssichere und möglichst streitvermeidende Form der Bekanntgabe von Verwaltungsakten zu eröffnen. Insbesondere vermeide sie den Streit darüber, ob der Verwaltungsakt tatsächlich an dem in den Akten vermerkten Datum zur Post gegeben worden sei. Da die Finanzämter die Feststellungslast für den tatsächlichen Zeitpunkt der Aufgabe zur Post trügen, drohe die Finanzverwaltung nämlich hinsichtlich der Einzelheiten des Postabsendeverfahrens im steuerrechtlichen Massenverfahren in Beweisnot zu geraten.
Hinweis
Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Ob diese Bekanntgabefiktion auch dann gilt, wenn der "dritte Tag" auf einen Sonntag, einen gesetzlichen Feiertag oder einen Sonnabend fällt oder für diesen Fall entsprechend § 108 Abs. 3 AO erst mit Ablauf des nächstfolgenden Werktags, ist Gegenstand der Vorlage an den Großen Senat.
Bisher hat die Rechtsprechung des BFH § 108 Abs. 3 AO nicht auf die Dreitagefrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO angewendet, weil sie nur für Fristen, nicht aber für Zeiträume gelte. Davon will der IX. Senat abweichen und legt dem Großen Senat die Streitfrage vor, nachdem der Abweichung nur der II. und der XI. Senat, nicht aber der III., der IV. und der X. Senat der Abweichung zugestimmt haben.
Solange über die Vorlage noch nicht entschieden ist, sollte bei Fristversäumnis aufgrund eines Fristbeginns an einem Sonnabend, Sonn- oder Feiertag vorsorglich ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt werden (§ 110 Abs. 1 AO, § 56 FGO).
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 17.9.2002, IX R 68/98