Leitsatz
1. Eine Hinzuschätzung wegen Verstoßes gegen Aufzeichnungspflichten kommt nicht in Betracht, soweit der Steuerpflichtige darauf vertrauen durfte, dass er von einer ihm durch das Bundesministerium der Finanzen (BMF) eingeräumten Aufzeichnungserleichterung Gebrauch gemacht hat.
2. Für die Auslegung von an bestimmte Gruppen von Steuerpflichtigen adressierte Regelungen des BMF über Aufzeichnungserleichterungen ist der objektive Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der objektivierte Betroffene nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte, maßgebend; im Zweifel ist das die Betroffenen weniger belastende Auslegungsergebnis vorzuziehen.
Normenkette
§ 118, §§ 140 ff., § 148, § 162 AO, § 21a FVG, § 22 Abs. 2 Nr. 3, Nr. 1 Satz 2, § 3 Abs. 1b Nr. 1 UStG, Art. 108 Abs. 3 und 7, Art. 85 Abs. 3 und GG
Sachverhalt
Der Kläger betreibt als Einzelkaufmann mehrere Supermarktfilialen. Er ermittelte seinen Gewinn in den Streitjahren 2015 bis 2017 durch Betriebsvermögensvergleich. Sein Warensortiment umfasste Lebensmittel und Getränke, Genussmittel sowie sog. Non-Food-Artikel, darunter insbesondere Wasch- und Putzmittel, Hygienepapiere, Kosmetik- und Körperpflegeprodukte, Papier und Schreibwaren, Bücher, Zeitschriften, Textilien, Hartwaren, Pflanzen und Blumen mit Zubehör, nicht dagegen ungewöhnliche und besonders hochwertige Artikel (etwa Elektroartikel). Der Kläger, der mit einer weiteren Person zusammenlebte, entnahm in den Streitjahren aus seinen Supermärkten Nahrungs- und Genussmittel sowie Non-Food-Artikel, aber keine Tabakwaren. Er zeichnete die Warenentnahmen nicht einzeln auf. Dafür setzte er bei den Gewinnermittlungen Beträge im Umfang der vom BMF veröffentlichten Pauschbeträge für unentgeltliche Wertabgaben für jeweils zwei Personen an. Nach einer Außenprüfung kam das FA zu der Auffassung, dass die BMF-Regelung nur für die Entnahme von Nahrungs- und Genussmitteln ohne Tabakwaren gelte, Non-Food-Artikel hingegen nicht erfasse. Es nahm deshalb Hinzuschätzungen für die Entnahme der Non-Food-Produkte vor. Das FG (FG Münster, Urteil vom 29.4.2022, 10 K 1297/20 G,U,F, Haufe-Index 15273056) gab der Klage statt. Es ging davon aus, dass das FA zwar zur Hinzuschätzung berechtigt gewesen sei. Die Hinzuschätzung habe aber nicht über die vom BMF bekanntgegebenen Pauschbeträge hinausgehen dürfen.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision des FA als unbegründet zurück. Er bestätigte das FG-Urteil als im Ergebnis richtig. Anders als das FG verneinte der BFH aber bereits die Schätzungsbefugnis des FA, da der Kläger seine Aufzeichnungspflicht hinsichtlich der Entnahme von Non-Food-Produkten nicht verletzt habe.
Hinweis
1. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG sind Entnahmen gewinnerhöhend zu berücksichtigen. Entnahmen sind alle Wirtschaftsgüter (Barentnahmen, Waren, Erzeugnisse, Nutzungen und Leistungen), die der Steuerpflichtige dem Betrieb für sich, für seinen Haushalt oder für andere betriebsfremde Zwecke im Laufe des Wirtschaftsjahres entnommen hat (§ 4 Abs. 1 Satz 2 EStG).
2. Gemäß § 22 Abs. 2 Nr. 3, Nr. 1 Satz 2, § 3 Abs. 1b Nr. 1 UStG, §§ 140 ff. AO sind Aufzeichnungen über die Entnahme von Gegenständen durch den Unternehmer aus seinem Unternehmen für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen, getrennt nach Steuersätzen vorzunehmen.
3. Das BMF veröffentlicht für bestimmte Gewerbezweige (insbesondere Bäckereien, Metzgereien, Gaststätten, Cafés/Konditoreien, Einzelhandel mit Getränken, Milcherzeugnissen, Obst und Gemüse) jährlich Pauschbeträge für Sachentnahmen, die in einen Betrag zum ermäßigten und einen Betrag zum vollen Steuersatz aufgeteilt sind. Die Pauschbeträge beruhen nach der ersten und zweiten Vorbemerkung des jeweiligen BMF-Schreibens auf statistischen Erfahrungswerten. Sie eröffnen die Möglichkeit, die Warenentnahmen monatlich pauschal zu verbuchen und entbinden den Steuerpflichtigen damit von der Aufzeichnung einer Vielzahl von Einzelentnahmen.
4. Nach § 162 Abs. 1 Satz 1 AOhat die Finanzbehörde zu schätzen, soweit sie die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen kann. Gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 AO ist insbesondere dann zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegt. Eine Schätzungsbefugnis besteht allerdings nicht, soweit der Steuerpflichtige von Aufzeichnungspflichten entbunden war (z. B. gemäß § 22 Abs. 6 Nr. 1 UStG i. V. m. §§ 63 ff. UStDV oder gemäß § 148 Satz 1 AO).
5. Für Erleichterungen nach § 148 Satz 1 AO sind an sich die Finanzbehörden der Länder sachlich zuständig. Das BMF darf aber nach § 21a Abs. 1 Satz 1 FVG allgemeine fachliche Weisungen gegenüber den Finanzbehörden der Länder erteilen. Richten sich diese – wie die hier im Streit stehende Regelung über die Pauschbeträge für Sachentnahmen – nicht nur intern an die Finanzbehörden der Länder, sondern im Hinblick auf die Modifizierung der Aufzeichnungspflicht auch unmittelbar an den Steuerpflichtigen, ist bei deren Auslegung ei...