Leitsatz

Mit der gem. § 169 Abs. 2 S. 2 AO auf zehn Jahre verlängerten Festsetzungsfrist soll es dem durch eine Steuerstraftat geschädigten Steuergläubiger ermöglicht werden, die ihm vorenthaltenen Steuerbeträge auch noch nach Ablauf von vier Jahren zurückzufordern. Sinn und Zweck des § 169 Abs. 2 S. 2 AO bestehen jedoch nicht darin, den Steuerhinterzieher in die Lage zu versetzen, Erstattungsansprüche über die reguläre Verjährungsfrist hinaus zu realisieren.

§ 169 Abs. 2 S. 2 AO setzt einen hinterzogenen Betrag im Sinn eines Anspruchs des Fiskus auf eine Abschlusszahlung voraus, der wegen einer vollendeten Steuerhinterziehung bislang nicht geltend gemacht werden konnte.

 

Normenkette

§ 169 Abs. 2 S. 2, § 370 Abs. 1, Abs. 4 S. 3 AO

 

Sachverhalt

Die Kläger wurden im Streitjahr 1997 zusammen zur ESt veranlagt. In ihrer am 29.03.1999 beim beklagten FA eingereichten ESt-Erklärung gaben sie auf Seite 2 des Mantelbogens an, ihre Einnahmen aus Kapitalvermögen hätten weniger als 12 200 DM betragen. Eine Anlage KSO reichten sie nicht ein. Das FA veranlagte die Kläger erklärungsgemäß und setzte mit Bescheid vom 21.06.1999 die ESt auf null DM fest.

Am 24.12.2004 ging beim FA ein als Selbstanzeige und strafbefreiende Erklärung bezeichnetes Schreiben der Kläger ein. Daraus ergab sich, dass sie in den Jahren 1993 bis 2002 nicht erklärte Kapitaleinkünfte bezogen hatten. Für das Jahr 1997 war die Anlage KSO nebst Steuerbescheinigungen einer Bank beigefügt. Daraus ging hervor, dass die Kläger Einkünfte aus Kapitalvermögen i.H.v. 34 443 DM erzielt hatten und KapESt von 12 438,66 DM sowie KSt von 711,43 DM anzurechnen wären.

Das FA ermittelte im Rahmen einer Probeberechnung, dass eine Veranlagung zu einer festzusetzenden ESt i.H.v. 5 706 DM, jedoch nach Abzug der anzurechnenden Kapitalertrag- und Körperschaftsteuer zu einer Steuererstattung von 7 445 DM führen würde. Daraufhin lehnte das FA die von den Klägern begehrte Änderung der ESt nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sowie die Anrechnung der KapESt ab, da die verlängerte Festsetzungsfrist gem. § 169 Abs. 2 S. 2 AO mangels Steuerhinterziehung nicht eingreife, die reguläre vierjährige Festsetzungsfrist indes bereits abgelaufen sei.

Das FG München (Urteil vom 10.11.2005, 15 K 3231/05, Haufe-Index 1479813, EFG 2006, 473) gab der Klage statt. Der BFH hob das Urteil auf die von ihm zugelassene Revision des FA hin auf und wies die Klage ab.

 

Entscheidung

Zu Unrecht habe das FG angenommen, die Festsetzungsfrist betrage im Streitfall gem. § 169 Abs. 2 S. 2 AO zehn Jahre, weshalb eine Änderung der ESt-Festsetzung 1997 noch zulässig sei.

Das in § 370 Abs. 4 S. 3 AO enthaltene sogenannte Kompensationsverbot führe in seinem typischen Anwendungsbereich zwar zur Annahme einer vollendeten Steuerhinterziehung, nicht aber zur Verlängerung der Festsetzungsfrist; denn es fehle an einem "hinterzogenen Steuerbetrag", der Gegenstand der verlängerten Festsetzungsfrist sein könnte. Eine dem Kompensationsverbot vergleichbare Verfahrenslage ergebe sich, wenn die KapESt einbehalten und auf Rechnung der Steuerpflichtigen bereits an den durch § 370 AO geschützten Steuergläubiger abgeführt worden sei. Auch hier gebe es keine Abschlusszahlung, also einen zunächst durch Hinterziehung vorenthaltenen und nach Tatentdeckung nachzuzahlenden Steuerbetrag.

Schließlich werde das Auslegungsergebnis auch durch die Entstehungsgeschichte bestätigt.

 

Hinweis

1. Sowohl in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung als auch im Schrifttum und seitens der Verwaltung werden sogenannte Erstattungsfälle unterschiedlich hinsichtlich der Anwendung des § 169 Abs. 2 S. 2 AO beurteilt. Der BFH hat nunmehr klargestellt, dass § 169 Abs. 2 S. 2 AO in der Weise auszulegen ist, dass die Regelung einen hinterzogenen Betrag im Sinn eines Anspruchs des Fiskus auf eine Abschlusszahlung voraussetzt, der wegen einer vollendeten Steuerhinterziehung oder einer leichtfertigen Steuerverkürzung bislang nicht verwirklicht werden konnte.

2. An einem solchen hinterzogenen Betrag fehlt es jedoch, wenn der Steuergläubiger die geschuldete ESt durch Steuerabzug bereits erhoben hat und deshalb objektiv kein Anspruch mehr auf eine Abschlusszahlung zu seinen Gunsten besteht.

3. Nach diesem Auslegungsverständnis zu § 169 Abs. 2 S. 2 AO konnte der BFH die ebenfalls bislang höchstrichterlich noch nicht entschiedene Frage, ob der objektive und  subjektive Tatbestand einer ESt-Hinterziehung oder leichtfertigen ESt-Verkürzung auch dann vorliegt, wenn aufgrund einer unrichtigen Steuererklärung ESt zwar zu niedrig festgesetzt, sie jedoch aufgrund eines Steuerabzugs bereits erhoben worden ist, mangels Entscheidungserheblichkeit offen lassen. Denn jedenfalls kommt in den sogenannten Erstattungsfällen aufgrund teleologischer Auslegung des § 169 Abs. 2 S. 2 AO die verlängerte Festsetzungsfrist nicht zum Zug.

4.§ 169 Abs. 2 S. 2 AO liegen zwei Normzwecke zugrunde. Zum einen soll der Verwaltung ausreichend Zeit zur Berichtigung falscher Bescheide zur Verfügung stehen, um den mit der Steuerhinterzie...

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