Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
1. Das Entstehen des behinderungsbedingten Mehrbedarfs eines volljährigen behinderten Kindes ist dem Grunde und der Höhe nach substanziiert darzulegen und glaubhaft zu machen. Steht ein behinderungsbedingter Mehrbedarf dem Grunde nach zur Überzeugung des Gerichts fest, ist er bei fehlendem Nachweis der Höhe nach zu schätzen (Bestätigung der BFH-Urteile vom 9.2.2012, III R 53/10, BFHE 236, 417; vom 24.8.2004, VIII R 50/03, BFHE 207, 250, BStBl II 2010, 1052; VIII R 90/03, BFH/NV 2005, 332).
2. Werden mit einer Behinderung im Zusammenhang stehende Kosten im Wege der Eingliederungshilfe gem. §§ 53 ff. SGB XII durch einen Sozialleistungsträger übernommen, ist die gewährte Eingliederungshilfe einerseits als Leistung eines Dritten bei den zur Verfügung stehenden eigenen finanziellen Mitteln und andererseits als im Einzelnen nachgewiesener behinderungsbedingter Mehrbedarf zu berücksichtigen (Bestätigung des BFH-Urteils in BFHE 236, 417).
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, § 32 Abs. 4 Satz 2, § 33b Abs. 3, § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a und Satz 2 EStG, § 162 AO, § 53, § 41, § 94 Abs. 2 SGB XII
Sachverhalt
Der volljährige behinderte Sohn S des Steuerpflichtigen K war zu 100 % erwerbsgemindert. S war in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) teilstationär aufgenommen und lebte in betreuter Wohnmöglichkeit. S erhielt dafür finanzielle Leistungen, nämlich Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach §§ 53 ff. SGB XII. S bekam für seine Tätigkeit in der WfbM monatlich 30 EUR und zusätzlich Grundsicherung (§§ 41 ff. SGB XII). Ab September 2005 wurde K zu einem Kostenbeitrag an den Sozialhilfeträger herangezogen (§ 94 Abs. 2 SGB XII). Die Familienkasse gewährte K für 2005 kein Kindergeld, da S seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten könne. Die Klage des K blieb erfolglos (FG Baden-Württemberg vom 21.1.2009, 7 K 30/07, Haufe-Index 2684584).
Entscheidung
Der BFH bestätigte mit den unter den Praxis-Hinweisen erläuterten Erwägungen das Urteil des FG und wies die Revision zurück.
Hinweis
Ob ein behindertes volljähriges Kind i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, folgt aus dem Vergleich zweier Größen: 1. die dem Kind zur Verfügung stehenden eigenen finanziellen Mittel, 2. sein existenzieller Lebensbedarf. Zu den eigenen Mitteln gehören sämtliche Einkünfte und Bezüge und insbesondere auch Leistungen des Sozialleistungsträgers, sofern dieser nicht bei den Eltern Rückgriff nimmt. Der existenzielle Lebensbedarf ergibt sich aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf); das war früher der Jahresgrenzbetrag (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F.); diese Maßgröße wird künftig wohl der Grundfreibetrag des steuerrechtlichen Existenzminimums liefern. Der Lebensbedarf erhöht sich noch um den individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf (z.B. BFH, Urteil vom 22.10.2009, III R 50/07, BFH/NV 2010, 716, BFH/PR 2010, 168); das sind alle damit zusammenhängenden außergewöhnlichen wirtschaftlichen Belastungen (z.B. zusätzliche Wäsche, Unterstützungs- und Hilfeleistungen, typische Erschwernisaufwendungen). Achtung: Dazu gibt es keine Pauschalen, der Aufwand muss dem Grunde nach dargelegt und glaubhaft gemacht werden, dann kann das FG die Höhe allerdings auch schätzen. Übernimmt der Sozialleistungsträger solche Kosten (Eingliederungshilfe, §§ 53 ff. SGB XII), führt das häufig zum "Null-Summen-Spiel". Die Eingliederungshilfe gehört einerseits zu den eigenen finanziellen Mitteln, andererseits zum nachgewiesenen behinderungsbedingten Mehrbedarf. Der kann dann auch nicht nochmals nach § 33b Abs. 3 EStG berücksichtigt werden.
Hier war die Eingliederungshilfe zutreffend angesetzt, soweit beim Steuerpflichtigen nicht Rückgriff genommen wurde. Das FG hatte auch weiteren behinderungsbedingten Mehrbedarf geprüft, aber ausgeschlossen. Denn die vom Steuerpflichtigen geltend gemachten Besuchsfahrten zählen zum Grundbedarf. Weil sein Sohn nicht im elterlichen Haushalt lebte, Eingliederungshilfe für betreutes Wohnen und den Aufenthalt in einer Werkstatt für behinderte Menschen erhielt, war kein weiterer behinderungsbedingter Mehrbedarf für eine häusliche Versorgung, Betreuung und Unterstützung durch den Steuerpflichtigen erkennbar. Für jeden Monat hatte der Sohn mehr Mittel als Bedarf. Ob die beiden Größen (eigene Mittel/Lebensbedarf) jeweils monatlich oder jährlich zu vergleichen sind, konnte deshalb dahinstehen; ebenso die Frage, ob die monatlich an den Sohn geleisteten 30 EUR um den Arbeitnehmerpauschbetrag (§ 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG) zu kürzen waren; denn der Mittelüberhang lag über 30 EUR. Der Arbeitnehmerpauschbetrag ist auch nur bis zu den Einnahmen abziehbar, echte Verluste/Werbungskostenüberschüsse folgen daraus nicht (§ 9a Satz 2 EStG).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 12.12.2012 – VI R 101/10