Leitsatz
Ein Kind unter 25 Jahren, das wegen einer Erkrankung keine Berufsausbildung beginnen kann, ist nur dann als ausbildungsplatzsuchendes Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG zu berücksichtigen, wenn das Ende der Erkrankung absehbar ist. Ist dieses nicht absehbar, reicht der Wille des Kindes, sich nach dem Ende der Erkrankung um einen Ausbildungsplatz zu bemühen, nicht aus. In solchen Fällen ist zu prüfen, ob eine Berücksichtigung als behindertes Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG möglich ist.
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c, Nr. 3 EStG
Sachverhalt
Der Kläger ist Vater des 1997 geborenen Sohnes P, der die Schule in der 11. Klasse abbrach, nachdem er seit Jahren Drogen genommen hatte.
- Seit Frühjahr 2015 befand sich P in einer ambulanten Therapie,
- von August 2015 bis Juli 2016 war er mit Minijobs beschäftigt,
- von August 2016 bis September 2016 wurde er stationär therapiert, anschließend ambulant.
- Im Juni 2017 absolvierte er ein Praktikum.
Im Juli 2017 beantragte der Kläger Kindergeld. Er legte der Familienkasse Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und einen ärztlichen Nachweis vom 26.6.2017 vor, nach dem P seit September 2016 erkrankt und das Ende der Erkrankung nicht absehbar war. P gab am 26.6.2017 auf einem Vordruck an, dass er sich zum nächstmöglichen Termin um einen Ausbildungsplatz bewerben werde. Der behandelnde Arzt bescheinigte am 12.7.2017, das Ende der Erkrankung oder Arbeitsunfähigkeit könne nicht sicher vorausgesagt werde. Er nehme zunächst den 31.12.2017 an.
Die Familienkasse lehnte die Gewährung von Kindergeld für August 2015 bis Mai 2017 ab. Für die Zeit danach gewährte sie Kindergeld, weil P erklärt hatte, dass er nach Beendigung der Erkrankung eine Ausbildung anstreben werde und die Erkrankung zum 31.12.2017 beendet sein werde.
Das FG gab der Klage auf Kindergeld für September 2016 bis Mai 2017 statt (FG Hamburg, Urteil vom 31.7.2018, 6 K 192/17, Haufe-Index 12098758). Ein Kind, das aufgrund seiner psychischen Erkrankung nicht in der Lage sei, sich um eine Ausbildung zu bemühen oder eine Ausbildung zu beginnen, sei einem Kind gleichzustellen, das seine Ausbildung wegen einer Erkrankung nicht fortsetzen könne.
Entscheidung
Der BFH hob das FG-Urteil auf und verwies die Sache zurück. P ist nicht als ausbildungsplatzsuchendes Kind zu berücksichtigen, aber im zweiten Rechtsgang muss geprüft werden, ob er sich behinderungsbedingt nicht selbst unterhalten kann. Die ärztliche Bescheinigung vom 12.7.2017 ließ der BFH unberücksichtigt, weil sie erst nach dem Streitzeitraum ausgestellt wurde und keine Aussage zu der davor liegenden Zeit traf.
Hinweis
Das Urteil befasst sich mit der Abgrenzung der Berücksichtigungstatbestände "Ausbildungsplatzsuche" und "behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt".
1. Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG wird ein Kind berücksichtigt, das das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat und eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann. Wegen des gesetzgeberischen Ziels der Gleichstellung mit Kindern, die bereits einen Ausbildungsplatz gefunden haben, darf der Beginn der Ausbildung nicht an anderen Umständen als dem Mangel eines Ausbildungsplatzes scheitern: Die persönlichen Verhältnisse des Kindes dürfen der Verwirklichung des Ausbildungswunsches nicht entgegenstehen und es muss eine zugesagte Ausbildungsstelle auch antreten können.
Die Berücksichtigung ist daher ausgeschlossen, wenn
- ein Kind die Voraussetzungen für den angestrebten Studiengang nicht erfüllt,
- ausländerrechtliche Gründe einer Berufsausbildung entgegenstehen oder
- eine Ausbildung wegen Übergewichts nicht angetreten werden könnte.
Unschädlich ist es, wenn das Kind wegen der Schutzfristen nach dem Mutterschutzgesetz an der Aufnahme einer Berufsausbildung gehindert ist.
2.§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG erfasst demgegenüber typisierend Fälle, in denen ein Kind aus Gesundheitsgründen dauerhaft gehindert ist, eine Berufsausbildung oder Erwerbstätigkeit aufzunehmen und deshalb unterhaltsberechtigt ist. Die dort vorausgesetzte körperliche, geistige oder seelische Behinderung orientiert sich an § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Danach sind Menschen behindert,
- die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben,
- die sie in Wechselwirkung mit einstellungs‐ und umweltbedingten Barrieren
- an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.
Ist das Ende einer der in § 2 Abs. 1 SGB IX aufgezählten Beeinträchtigungen nicht absehbar, so sind in der Regel die Voraussetzungen einer Behinderung in zeitlicher Hinsicht erfüllt.
3. Wenn ein Kind aus Krankheitsgründen gehindert ist, einen Ausbildungsplatz zu suchen oder derartige Bemühungen angesichts der Erkrankung sinnlos wären, so genügt die allgemeine Ausbildungswilligkeit, die auf eine in der Zukunft zu beginnende Berufsausbildung gerichtet ist, nur dann für eine Berücksichtigung wegen Ausbildungsplatzsuch...