Leitsatz
1. Der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 wird im Rahmen der allgemeinen Vorschriften des Titels I in Art. 2 der VO Nr. 1408/71 festgelegt. Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 gilt die Verordnung insbesondere für Arbeitnehmer und Selbstständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene.
2. Für die Frage, ob der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet ist, kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer bzw. Selbstständige auch die Voraussetzungen erfüllt, die in ihrem Anhang I Teil I Buchst. D aufgeführt sind. Die in dieser Bestimmung enthaltenen Einschränkungen gelten nur für die Vorschriften des Titels III Kapitel 7 dieser Verordnung.
3. Erforderlich, aber auch ausreichend für die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs der VO Nr. 1408/71 ist, dass eine Person nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 in irgendeinem der von ihrem sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweige der sozialen Sicherheit in irgendeinem Mitgliedstaat der EU versichert ist.
4. Bescheinigt ein ausländischer Versicherungsträger das Bestehen einer Versicherung, so sind deutsche Behörden und Gerichte an diese Bescheinigung grundsätzlich gebunden. Behauptet der Kläger, die bescheinigte Versicherung bestehe zu Unrecht, obliegt ihm der Nachweis, dass die bestehende Versicherung mit Wirkung für den Streitzeitraum tatsächlich rückabgewickelt wurde.
5. Auf einen Familienangehörigen sind, sofern er nicht selbst Arbeitnehmer bzw. Selbstständiger i.S.d. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 ist, die Art. 13 ff. dieser Verordnung nicht anwendbar.
6. Soweit es nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 darauf ankommt, in welchem Mitgliedstaat die abhängige Beschäftigung bzw. die selbstständige Tätigkeit ausgeübt wird, bestimmt sich dies grundsätzlich nicht danach, in welchem Land die Versicherung besteht, sondern danach, in welchem Mitgliedstaat die Person abhängig beschäftigt ist bzw. eine selbstständige Tätigkeit ausübt. Anzuknüpfen ist dabei nur an diejenige(n) Tätigkeit(en), hinsichtlich derer die betreffende Person als Arbeitnehmer bzw. Selbstständiger i.S.d. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 gilt.
Normenkette
§§ 62ff. EStG, Art. 1 Buchst. a, Art. 2 Abs. 1, Art. 13, Art. 76, Anhang I Teil I Buchst. D VO Nr. 1408/71, Art. 10 VO Nr. 574/72, § 100 Abs. 3 FGO
Sachverhalt
Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und betreibt in Deutschland ein Gewerbe. Er ist verheiratet und hat zwei im April 1986 und im Juni 1990 geborene Kinder, die mit seiner Ehefrau in Polen leben. Seinen Antrag, ihm für beide Kinder Kindergeld zu gewähren, lehnte die Familienkasse im Oktober 2006 ab und wies den Einspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger sei seit 1991 bei der Sozialversicherung der Landwirte in Polen (KRUS) als Landwirt versichert und unterliege daher allein den polnischen Rechtsvorschriften.
Im Klageverfahren gab der Kläger dagegen u.a. an, er sei über seine Ehefrau bei der KRUS sozialversichert. Das FG hob den Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung auf und verwies die Sache nach § 100 Abs. 3 FGO zur weiteren Sachaufklärung an die Familienkasse zurück (Hessisches FG, Urteil vom 16.1.2008, 2 K 623/07, Haufe-Index 2153876).
Entscheidung
Die Revision der Familienkasse hatte Erfolg: Der BFH hat das FG-Urteil aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen.
Hinweis
1. Die Besprechungsentscheidung hat erhebliche Breitenwirkung für grenzüberschreitende Sachverhalte. Sie befasst sich mit der VO Nr. 1408/71 des Rats vom 14.6.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. Diese wurde mit Wirkung vom 1.5.2010 durch die VO Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ersetzt (ABlEU 2004 Nr. L 166, S. 1). Beide Verordnungen regeln Konkurrenzen zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit verschiedener Mitgliedstaaten sowie bilateraler Partnerländer wie der Schweiz.
2. Die Zahl und Reichweite der Fälle, in denen ein Arbeitnehmer oder Selbstständiger ausnahmsweise den Vorschriften zweier Mitgliedstaaten unterliegt, soll so klein wie möglich gehalten werden. Soweit jemand danach in das Sozialversicherungssystem eines anderen EU-Mitgliedstaats eingegliedert ist, entgeht er grundsätzlich der deutschen Sozialversicherungspflicht und den damit verbundenen Beiträgen. Durch die Eingliederung in ein anderes Sozialversicherungssystem kann aber zugleich der Anspruch auf Kindergeld entfallen, das als Familienleistung ebenfalls dem sachlichen Geltungsbereich der VO unterfällt (Art. 4 Abs. 1 Buchst. h VO Nr. 1408/71). Ein nach den Vorschriften der §§ 62 ff. EStG bestehender Anspruch auf Kindergeld kann nach ständiger Rechtsprechung des BFH durch die vorrangigen B...