Leitsatz
1. Das für ein behindertes Kind gezahlte Pflegegeld ist bei den dem Kind zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln als Bezug zu berücksichtigen.
2. Bei der Prüfung, ob dem behinderten Kind gegenüber seinem Ehegatten ein Unterhaltsanspruch zusteht, mindern die vom Ehegatten auf sein Einkommen geleisteten Steuern (Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag, Kirchensteuer) und Sozialversicherungsbeiträge das diesem zur Unterhaltsleistung zur Verfügung stehende Einkommen.
3. Der vom Ehegatten des behinderten Kindes an ein (gemeinsames oder nicht gemeinsames) minderjähriges Kind geleistete Unterhalt mindert die diesem für den Ehegattenunterhalt zur Verfügung stehenden Mittel.
Normenkette
§ 63 Abs. 1 Satz 2, § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG, § 1360, § 1360a, § 1361, §§ 1569ff., § 1609, § 1612b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB
Sachverhalt
Die Klägerin ist Mutter der 1987 geborenen behinderten Tochter T (GdB 70, Merkzeichen G). T war verheiratet und hatte mit ihrem Ehemann einen 2017 geborenen Sohn E, den Enkel der Klägerin. Der Ehemann ist zudem Vater eines weiteren Kindes X aus einer früheren Beziehung, für das er monatlich 305 EUR Unterhalt zahlt.
Die Klägerin erhielt zunächst laufend Kindergeld. Nach dem Eingang angeforderter Belege über die finanzielle Situation der Familie der T hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes ab November 2018 gemäß § 70 Abs. 2 EStG auf.
Die Klage hatte keinen Erfolg, weil das FG den Unterhaltsanspruch der T gegen ihren Ehemann ohne Abzug von dessen Unterhaltsleistungen an E und X ermittelte (FG Nürnberg, Urteil vom 25.2.2021, 4 K 392/19).
Entscheidung
Aufgrund der Berechnung der Bezüge durch den BFH entsprechend den Praxis-Hinweisen hatte die Revision der Klägerin für zwei der vier streitigen Monate Erfolg; insoweit wurde die Familienkasse zur Festsetzung von Kindergeld verpflichtet.
Hinweis
1. Für behinderte Kinder, deren Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist, kann lebenslang Kindergeld beansprucht werden, wenn sie behinderungsbedingt zum Selbstunterhalt außerstande sind.
Die Fähigkeit zum Selbstunterhalt ist dabei anhand eines Vergleichs des aus dem Grundbedarf und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf bestehenden gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner Einkünfte und Bezüge andererseits für jeden Monat gesondert zu prüfen.
2. Der behinderungsbedingte Mehrbedarf kann einzeln nachgewiesen oder mit dem Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) angesetzt werden. Wird – wie hier – Pflegegeld gezahlt, welches den anteiligen monatlichen Behinderten-Pauschbetrag übersteigt, so ist zu vermuten, dass mindestens ein Mehrbedarf i.H.d. gezahlten Pflegegeldes besteht.
3. Sozialleistungen, mit deren Hilfe das Kind seinen Grund- oder behinderungsbedingten Mehrbedarf decken kann, gehören zu den Bezügen, soweit der Sozialleistungsträger nicht bei den Eltern Regress nimmt. Dies gilt auch für das Pflegegeld, Blindengeld und andere Sozialleistungen, die besonderen Bedarf abdecken sollen. Unberücksichtigt bleiben lediglich Bezüge, die nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts des Kindes bestimmt oder geeignet sind, also Schmerzensgeld wegen seiner Sonderfunktion, immaterielle Beeinträchtigungen zu mildern oder auszugleichen.
4. Zu den Bezügen gehören auch Unterhaltsleistungen des verheirateten oder geschiedenen Ehegatten des Kindes, die bei zusammenlebenden Ehepartnern wie folgt zu schätzen sind:
- Bei kinderloser Ehe ist dem nicht verdienenden Ehepartner die Hälfte des gemeinsamen verfügbaren Nettoeinkommens in Form von Geld- und Sachleistungen als Unterhalt zuzurechnen, sofern dem unterhaltsverpflichteten Ehepartner ein verfügbares Einkommen i.H.d. steuerlichen Existenzminimums verbleibt. Steuern und Sozialabgaben sind mithin abzuziehen, nicht aber ein Erwerbstätigenbonus.
- Verfügt das Kind auch über eigene Mittel, so ist zu unterstellen, dass sich die Eheleute ihr gemeinsames verfügbares Einkommen teilen.
- Haben die Ehegatten eigene Kinder, so werden die Einkünfte desjenigen Ehegatten, für den Kindergeld begehrt wird, durch dessen Unterhaltsleistungen an sein eigenes Kind nicht gemindert.
5. Unterhaltsverpflichtungen des behinderten Kindes gegenüber seinem Kind, d.h. dem Enkel der Eltern des behinderten Kindes, mindern dessen Einkünfte und Bezüge nicht. Denn die behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt bestimmt sich danach, ob Einkünfte und Bezüge des behinderten Kindes dessen existenziellen Lebensbedarf decken. Der Unterhaltsbedarf des Kindeskindes vermindert jedoch weder die Einkünfte und Bezüge des behinderten Kindes noch erhöht er dessen (!) existenziellen Lebensbedarf. Anderenfalls wären Einkünfte und Bezüge des Kindes faktisch bis zur doppelten Höhe des Existenzminimums unschädlich, nämlich für das Kind selbst und für das Kindeskind. Die vom Enkelkind ausgelösten Unterhaltslasten werden ausschließlich durch den für dieses (Enkel‐)Kind bestehenden Anspruch auf Kindergeld oder die Freibeträge des § 32 Abs. 6 EStG abgegolten.
6. Die als Bezug des...