Leitsatz
Erteilt die Ausländerbehörde rückwirkend einen Aufenthaltstitel, der nach § 62 Abs. 2 EStG zur Inanspruchnahme von Kindergeld berechtigt, so hat dies kindergeldrechtlich keine Rückwirkung. Für den Anspruch auf Kindergeld ist vielmehr der "Besitz" eines solchen Aufenthaltstitels erforderlich. Dies setzt voraus, dass der Kindergeldberechtigte den Titel im maßgeblichen Anspruchszeitraum tatsächlich in den Händen hält.
Normenkette
§ 62 Abs. 2, § 66 EStG, § 28, § 4 AufenthG, § 74 FGO
Sachverhalt
Die Klägerin ist nigerianische, ihre Tochter deutsche Staatsangehörige. Die Klägerin reiste mit einem vom 5. bis 11.11.2011 gültigen Besuchsvisum ein und beantragte im Juni 2012 unter Hinweis auf ihre Schwangerschaft eine Duldung. Dem Antrag war eine notarielle Urkunde beigefügt, in der U, ein deutscher Staatsangehöriger, die Vaterschaft für das zu erwartende Kind anerkannte.
Im Juli 2012 erhielt die Klägerin eine Duldung. Nach der Geburt des Kindes beantragte sie im September 2012 eine Aufenthaltserlaubnis. Wegen Zweifeln an der biologischen Vaterschaft des U wurde ein Vaterschaftsgutachten eingeholt. Nachdem dieses die Vaterschaft des U bestätigt hatte, erhielt die Klägerin am 24.7.2013 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, die zur Ausübung der Erwerbstätigkeit berechtigte.
Den im Oktober 2012 gestellten Antrag auf Kindergeld lehnte die Familienkasse ab, weil kein nach § 62 EStG vorgesehener Aufenthaltstitel vorliege. Während des Klageverfahrens teilte die Ausländerbehörde dem FG zunächst mit, die Aufenthaltserlaubnis gelte ab der Ersterteilung, und erklärte mit einem weiteren Schreiben, dass der Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis bereits seit der Geburt des Kindes bestanden habe.
Das FG Köln (Urteil vom 7.5.2014, 14 K 2405/13, Haufe-Index 7536611, EFG 2014, 1416) gab der Klage statt.
Entscheidung
Die Revision der Familienkasse führte zur Klageabweisung, da die Klägerin im Streitzeitraum zunächst keinen der in § 62 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 EStG aufgeführten Aufenthaltstitel besaß und die Aufenthaltserlaubnis erst während des Klageverfahrens erteilt wurde.
Hinweis
1. Ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer erhält gemäß § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG Kindergeld nur, wenn er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, die zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt oder berechtigt hat, sofern es sich nicht um einen der in § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a bis c EStG genannten Aufenthaltstitel handelt. Das ergibt sich bereits aus dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift ("besitzt"). Der Ausländer muss den Aufenthaltstitel also tatsächlich körperlich in Händen halten, ein bloßer Anspruch auf den Titel genügt nicht.
2. Wenn ein Aufenthaltstitel mit rückwirkendem Geltungsbeginn erteilt wird, entsteht dadurch kein rückwirkender Besitz und daher auch kein rückwirkender Anspruch auf Kindergeld. Das ergibt sich auch daraus, dass der Ausländer keine legale Erwerbstätigkeit aufnehmen und somit nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden konnte, da der Auftrag- oder Arbeitgeber gemäß § 4 Abs. 3 Satz 4 AufenthG überprüfen muss, ob ein die Beschäftigung erlaubender Aufenthaltstitel vorliegt.
3. Der Kindergeldanspruch beginnt – dem Monatsprinzip des § 66 Abs. 2 EStG folgend – erst, wenn die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld an zumindest einem Tag des jeweiligen Monats tatsächlich vorliegen. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG zum BKGG, zum Bundeserziehungsgeldgesetz und zum Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz, wonach der auf einen Zeitpunkt vor der tatsächlichen Erteilung zurückreichende Aufenthaltstitel für die Vergangenheit keine Leistungsansprüche begründet.
4. Das umfangreiche Besprechungsurteil lehnt eine analoge Anwendung von § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG ab, verneint verfassungsrechtliche Bedenken und begründet, dass der Rechtsstreit mangels Vergleichbarkeit nicht wegen der Vorlagen des Niedersächsischen FG vom 19.8.2013 und vom 21.8.2013, 7 K 9/10, 7 K 111/13, 7 K 112/13, 7 K 113/13, 7 K 114/13, 7 K 116/13 (teilweise abgedruckt in EFG 2014, 932 ff.) an das BVerfG gemäß § 74 FGOauszusetzen war.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 5.2.2015 – III R 19/14