Rz. 49c
Bezüglich der großen Einschätzungsspielräume gibt es formale Begrenzungen der Nutzung für das erstellende Unternehmen. In den ESRS wird zwischen grundlegenden und – bislang etwas unglücklich in den offiziellen Dokumenten übersetzt – "sich verbessernden qualitativen" Merkmalen von Informationen unterschieden (ESRS 1.19). In einem eigenen Anhang (Anlage B des ESRS 1) werden die folgenden Merkmale näher beschrieben und definiert:
Grundlegende qualitative Merkmale von Informationen (fundamental qualitative characteristics of information):
- Relevanz (relevance; ESRS 1.QC1 bis QC4) und
- wahrheitsgetreue Darstellung (faithful representation; ESRS 1.QC5 bis QC9) sowie
sich verbessernde qualitative Merkmale von Informationen (enhancing qualitative characteristics of information):
- Vergleichbarkeit (comparability; ESRS 1.QC10 bis QC12),
- Überprüfbarkeit (verifiability; ESRS 1.QC13 bis QC15) und
- Verständlichkeit (understandability; ESRS 1.QC16 bis QC20).
Diese ähneln somit den Vorgaben für Informationen der Finanzberichterstattung, wie sie etwa nach dem Rahmenkonzept des IASB für die IFRS-Rechnungslegung relevant sind. Allerdings gibt es doch wesentliche Unterschiede. So fehlt die Kosten-Nutzen-Betrachtung, die insgesamt im Nachhaltigkeitsbereich nur bedingt über die Wesentlichkeitsbetrachtung erreicht werden kann. Zudem ist die Zielgruppe herausfordernder: Während sich die IFRS primär nur an die Eigen- und Fremdkapitalgeber richten und die übrigen Adressaten ihre Informationsansprüche zurückzustellen haben, richtet sich der Nachhaltigkeitsbericht nach der CSRD und damit den ESRS an die Stakeholder und Adressaten des Berichts gleichermaßen.
Bezüglich der wahrheitsgetreuen Darstellung wird gefordert, dass um entscheidungsnützlich zu sein, die Informationen nicht nur relevant, sondern auch glaubwürdig sein müssen, d. h. die Sachverhalte wahrheitsgetreu wiedergegeben (ESRS 1.QC5). Um diesem Ziel zu entsprechen, muss eine Information drei Eigenschaften aufweisen:
- Vollständig (complete): Alle wesentlichen Informationen müssen in die Nachhaltigkeitsberichterstattung aufgenommen werden, die erforderlich sind, damit der Nutzer der Nachhaltigkeitsberichterstattung die Auswirkungen, Risiken und Chancen eines Unternehmens verstehen kann (ESRS 1.QC6).
- Neutral (neutral): Die Informationen haben in ausgewogener Weise dargestellt zu werden; weder stehen eine zu vorteilhafte noch eine zu unvorteilhafte Darstellung im Einklang mit der Anforderung an eine neutrale Informationsdarstellung. Diese Forderung erstreckt sich sowohl auf die Auswahl der Berichtsinhalte als auch auf deren Abhandlung in dem Nachhaltigkeitsbericht selbst (ESRS 1.QC7).
- Korrekt (free from error), mitunter auch als "genau" ("accurate") bezeichnet: Die Informationen, die in der Nachhaltigkeitsberichterstattung dargestellt werden, dürfen nicht von wesentlichen Falschdarstellungen verzerrt werden. Eine absolute Präzision ist aber ebenso nicht erforderlich. Genaue Informationen setzen voraus, dass angemessene Verfahren und interne Kontrollen bestehen, um wesentliche Fehler oder wesentliche Falschangaben zu vermeiden (ESRS 1.QC9).
Somit ist wie nach IFRS eine rechnungslegungspolitische Nutzung der Einschätzungsspielräume formal vom Grundsatz ausgeschlossen. Gleichwohl ist auch nach den IFRS eine Nutzung von Rechnungslegungspolitik in der Praxis zu belegen. Daher könnten, gerade da den Adressaten und Prüfern des Nachhaltigkeitsberichts besonders in den ersten Jahren noch wenig ausgereifte Analyseinstrumente zur Verfügung stehen und auch generell ein Nachweis über eine "tendenziöse" Nutzung von Einschätzungsspielräumen sehr schwer möglich ist, Unternehmen auch in diesem Bereich versucht sein, die Einschätzungsspielräume zu nutzen.