Rz. 49f
Abgeleitet aus der bestehenden Rechnungslegung können, auch wenn es wie aufgezeigt keine wirklich großen Spielräume gibt, verschiedene Handlungsoptionen abgeleitet werden, die Unternehmen für die Ausgestaltung der Rechnungslegungspolitik im Rahmen des Nachhaltigkeitsberichts bedenken sollten:
- Zunächst ist aus der allgemeinen Rechnungslegungspolitik abgeleitet zu klären, ob das Unternehmen eine transparente oder eine verschlossene Darstellung bieten möchte.
- Auch wäre denkbar, durch die Wahl treffender Basisjahre am Anfang tiefzustapeln, um später von (scheinbar) größeren Verbesserungen zu profitieren.
- Eine probate Vorgehensweise ist es auch, angabepflichtige kritische Informationen in einer Masse unkritischer Informationen zu verstecken.
- Eine Strategie kann es sein, im Vergleich zur Peergroup möglichst Vorläufer zu sein und damit selbst auch Trends zu setzen.
- Bei der Berichterstattung ist zu klären, ob nur bestimmte Stakeholdererwartungen erfüllt (oder bevorzugt bedient) werden sollen. Auch kann mit den Erwartungen der Nutzer gespielt werden (für die die Nachhaltigkeitsberichte selbst vielfach auch Neuland sind).
- Schon aus der Lageberichterstattung ist bekannt, dass Unternehmen lieber über globale Entwicklungen und Branchenentwicklungen als über das eigene Unternehmen berichten, was allerdings durch die detaillierten ESRS eingeengt ist.
- Die Pflicht unternehmensindividuelle Informationen zusätzlich zu den themenspezifischen Aspekten der ESRS zu ergänzen, kann durch Auslegung der Wesentlichkeit zu bestimmten Schwerpunktverschiebungen genutzt werden, um von anderen (unerfreulicheren) Aspekten abzulenken.
- Abzuwarten bleibt auch, ob der Trend zum Einbezug von externen Bestätigungen, etwa Zertifikaten, Mitgliedschaften in Arbeitskreisen oder Ratings, zur Steigerung der Glaubwürdigkeit anhalten oder durch die ESRS-Standardisierung eher überflüssig werden wird.
- Es ist aus den Erfahrungen mit der Lageberichterstattung auch abzusehen, dass einige Unternehmen die Berichterstattung über Strategien und Richtlinien betonen werden, zulasten der konkreten Darstellung von Ergebnissen und Wirkungen.
- Beim Ausweis ist zu entscheiden, ob eine intensive Verweisnutzung auf andere Berichtsteile erfolgen soll oder doch eine möglichst geschlossene Darstellung angestrebt wird.
Dies alles ist in einem Umfeld zu entscheiden, in dem das Zahlenmaterial des Jahresabschlusses eher als vergangenheitsorientiert und ggf. abschlusspolitisch beeinflusst aufgefasst wird. Der Lagebericht mindert dies zwar bereits ab, aber auch hier gibt es noch Ausgestaltungsschwächen. Die durch die Transformation der Wirtschaft in Richtung von Nachhaltigkeit, aber auch durch technologische Entwicklungen ausgelöste Disruptionen in Geschäftsmodellen erhöhen die Notwendigkeit der Qualitätseinschätzung des Managements, die mit den ESRS zusätzlich etwa zur Erklärung zur Unternehmensführung nach § 289f HGB gegeben sein wird. Die gesellschaftlichen Informationsbedarfe an Unternehmen steigen spürbar an, und nicht erst seit der Finanzkrise ist ein zunehmendes Misstrauen gegen „die Konzerne“ zu beobachten, dem entgegenzutreten ist.
Auch die Digitalisierung der Rechnungslegung und Offenlegung führt zu einem Spagat: Einerseits wird die überzeugende individuelle Darstellung des Unternehmens/Konzerns immer wichtiger ("Storytelling"), andererseits steigen die Anforderungen an die Vergleichbarkeit und automatische Auslesbarkeit. Damit geraten auch bislang wichtige visuelle Gestaltungselemente eher in den Hintergrund. Die Masse der nötigen und angebotenen Informationen führt vielfach zu einem "information overload", der wiederum durch die Digitalisierung eingegrenzt werden kann, aber den Unternehmen selber immer weniger Einfluss auf die Nutzung der Daten lässt. Des Weiteren könnten die Handlungsspielräume der Unternehmen zukünftig durch die Verabschiedung von Branchenstandards weiter eingeschränkt werden, da diese weitere zusätzliche Vorgaben zu verpflichtend offenzulegenden Nachhaltigkeitsaspekten enthalten (werden).
Insgesamt sind die zielgerichteten Gestaltungsoptionen im Sinne einer Rechnungslegungspolitik im Rahmen des Nachhaltigkeitsberichts eingeschränkt. Formal ist die Nutzung von Rechnungslegungspolitik zur Nutzung von Einschätzungsspielräumen in den ESRS wie auch schon den IFRS ausgeschlossen, da sie nicht mit den Anforderungen für eine neutrale Informationswiedergabe vereinbar ist. Allerdings zeigt sich auch in der Rechnungslegung nach IFRS, dass Einschätzungs- und Ermessensspielräume abschlusspolitisch eingesetzt werden können – so z. B. beim Goodwill impairment test oder bei latenten Steuern. Auch Wesentlichkeit und Wahrscheinlichkeit werden im Rahmen der ESRS-Nachhaltigkeitsberichterstattung ähnlich wie bei der IFRS-Rechnungslegung unvermeidbare Einschätzungs- und Ermessensspielräume mit sich bringen. Zudem dürften auch die an vielen Stellen der ESRS aufgeführten Wahlrechte nicht völlig losgelöst von den Erwartungen der Nutzer und Stakeholder gewählt werden ...