Leitsatz
1. Familienleistungen nach dem polnischen Gesetz über staatliche Beihilfen zur Kindererziehung vom 17.02.2016 (sog. 500+) sind auf das in Deutschland gezahlte Kindergeld anzurechnen.
2. Es handelt sich auch nach europarechtlichen Grundsätzen um Familienleistungen gleicher Art.
3. Die Mitteilung einer ausländischen Behörde über die Gewährung einer Familienleistung hat Bindungswirkung für die Familienkasse (vgl. Senatsurteil vom 26.07.2017 - III R 18/16, BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237). Erfolgt diese erst nach der Kindergeldfestsetzung, so stellt diese eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse i.S. des § 70 Abs. 2 EStG dar.
Normenkette
§ 70 Abs. 2, § 65, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 62, § 31 Satz 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG, Art. 1 Buchst. z, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j, Art. 68 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 EGV 883/2004, § 118 Abs. 2, § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b, § 76 FGO, § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO
Sachverhalt
Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und Vater zweier minderjähriger Töchter. Er wurde von seinem polnischen Arbeitgeber nach Deutschland entsandt und hatte hier einen Wohnsitz.
Mit Bescheid vom 23.6.2016 hatte die Familienkasse Kindergeld ab September 2015 in voller Höhe bewilligt. Am 18.9.2017 teilte die polnische Behörde ROPS der Familienkasse mit dem Formular F003 mit, dass an den Kläger für den Streitzeitraum monatlich 500 PLN gezahlt worden seien.
Die Familienkasse änderte deshalb den Kindergeldfestsetzungsbescheid am 9.10.2017 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO und rechnete für April 2016 bis September 2017 polnische Familienleistungen i.H.v. monatlich 500 PLN, insgesamt 2.122,38 EUR, auf das gezahlte Kindergeld an und forderte diesen Betrag zurück.
Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg (Sächsisches FG, Urteil vom 24.1.2018, 5 K 1711/17 (Kg)).
Entscheidung
Der BFH wies die Revision des Klägers als unbegründet zurück.
Hinweis
1. Ein Unionsbürger, der (auch) im Inland wohnt, hat gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG i.V.m. §§ 62ff. EStG i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG Anspruch auf Kindergeld.
2. Ist der persönliche und sachliche Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet, dann sind konkurrierende Ansprüche i.S.d. Verordnung ausschließlich nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 zu koordinieren. Diese Prioritätsregelung ist gegenüber § 65 EStG grundsätzlich vorrangig.
Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 war im Streitfall eröffnet, weil der Kläger Staatsangehöriger eines EU-Mitgliedstaats ist (persönlicher Anwendungsbereich) und das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S.d. Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004 ist (sachlicher Anwendungsbereich, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004).
3. Kindergeld nach dem EStG und die polnische Familienleistung "500+", die von einer Person gleichzeitig für denselben Familienangehörigen beansprucht werden können, sind konkurrierende Ansprüche i.S.d. Art. 68 der VO Nr. 883/2004. Beide Leistungen sind nach Sinn und Zweck sowie nach ihren Anspruchsvoraussetzungen vergleichbar. Berechnungsgrundlagen und die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung müssen nicht völlig gleich sein.
Die Prüfung eines materiell-rechtlichen Anspruchs nach ausländischem Recht hat zu unterbleiben, wenn eine ausländische Behörde bereits für den Streitzeitraum entschieden hat und dieser Entscheidung Bindungswirkung für die deutschen Behörden und Gerichte zukommt.
4. Der Anspruch des Klägers auf die polnische Familienleistung 500+ war gegenüber dem Anspruch auf deutsches Kindergeld nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 vorrangig.
Maßgeblich für die Koordinierung ist, aufgrund welchen Tatbestands die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 11 bis 16 der VO Nr. 883/2004 unterstellt ist. Das EU-Recht unterscheidet in Art. 68 der VO Nr. 883/2004 nur zwischen den vier Anknüpfungspunkten Beschäftigung, selbstständige Erwerbstätigkeit, Rente und Wohnsitz.
Der Kläger unterlag als (im Inland tätiger) entsandter Arbeitnehmer gemäß Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 den polnischen Rechtsvorschriften. Nach deutschen Rechtsvorschriften wurde der Anspruch aus unionsrechtlicher Sicht nur durch den Wohnort ausgelöst. Danach war Polen im vorliegenden Fall als Beschäftigungsstaat der vorrangige und Deutschland als Wohnsitzland der nachrangige Staat.
5. Gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der VO Nr. 883/2004 wird der inländische Kindergeldanspruch i.H.d. ausländischen Familienleistungen ausgesetzt, sodass nur die Differenz zwischen dem deutschen Kindergeld und den polnischen Familienleistungen zu zahlen ist. Wird der Kindergeldanspruch in Deutschland ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst, so ist nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 kein Differenzkindergeld zu zahlen. Die Familienkasse hatte jedoch im Streitfall Differenzkindergeld gezahlt.
6. Die Kindergeldfestsetzung kann nach § 70 Abs. 2 EStG geändert werden, wenn eine ursprünglich rechtmäßige Festsetzung durch Änderung der für den Kindergeldanspruch maßgeblichen ...