Leitsatz
1. Weder ein Benennungsverlangen i.S. des § 160 AO noch die (fehlende) Antwort hierauf begründen die Tatbestandsvoraussetzungen einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO oder nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (Anschluss an BFH-Urteil vom 9. März 2016, X R 9/13, BFHE 253, 299, BStBl II 2016, 815).
2. Wird dem FA aufgrund eines nach Bestandskraft eines Einkommensteuerbescheids gestellten Benennungsverlangens bekannt, dass der Steuerpflichtige den Wareneingang nicht entsprechend den Vorschriften des § 143 Abs. 1 AO aufgezeichnet hat, kann dies eine nachträglich bekannt gewordene Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO darstellen.
3. Die Schätzung der Höhe der durch einen Wareneinkauf entstandenen Betriebsausgaben setzt voraus, dass sich das FA bzw. das FG die volle Überzeugung davon verschafft hat, ob und ggf. in welchem Umfang ein Wareneinkauf durch den Steuerpflichtigen stattgefunden hat. Hierbei sind die allgemeinen Beweisregeln, einschließlich der Regeln über die Beweisnähe, Beweisvereitlung und Beweislast anzuwenden.
Normenkette
§ 160 Abs. 1, § 173 Abs. 1 Nr. 1, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 143, § 88 Abs. 1 Satz 1, § 162 AO, § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO, § 4 Abs. 4 EStG
Sachverhalt
Der Kläger ermittelte die Einkünfte aus einem Schrotthandel durch Einnahmenüberschussrechnung. Nach einer Außenprüfung stellte das FA fest, dass Belege für Wareneinkäufe fehlten. Der Aufforderung zur Empfängerbenennung (§ 160 AO) kam der Kläger nicht nach.
Das FA schätzte die Betriebseinnahmen auf der Grundlage von Kontrollmaterial, daraus ergaben sich Hinzuschätzungen i.H.v. netto 47.811,73 EUR für 2006 (Betriebseinnahmen insgesamt: 70.576 EUR) und 15.816,53 EUR für 2007 (Betriebseinnahmen insgesamt: 57.592 EUR). Aufwendungen für den Wareneinkauf i.H.v. 16.199 EUR für 2006 und 33.598 EUR für 2007 ließ es nicht zum Betriebsausgabenabzug zu. Zudem wurden aufgrund einer Kontrollmitteilung über Arbeiten für beide Streitjahre Betriebseinnahmen i.H.v. jeweils 2.000 EUR brutto geschätzt.
Das Niedersächsische FG (Urteil vom 22.7.2014, 4 K 150/14, Haufe-Index 7202854, EFG 2014, 1746) gab der Klage teilweise statt. Es gewährte einen Betriebsausgabenabzug wegen Aufwendungen für den Wareneinkauf i.H.v. 50 % der sich nach der Hinzuschätzung durch das FA insgesamt ergebenden Betriebseinnahmen und lehnte die Hinzuschätzung von Betriebseinnahmen aus Arbeiten ab.
Entscheidung
Die Revision des FA führte zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Sache. Im zweiten Rechtsgang ist zunächst zu klären, ob der Veranlagungssachbearbeiter die fehlende Ordnungsmäßigkeit der Aufzeichnung des Wareneingangs kannte. Falls die Einkommensteuerbescheide wegen neuer Tatsachen geändert werden durften, ist weiter zu klären, ob überhaupt und ggf. in welcher Höhe Betriebsausgaben für den Wareneingang zu schätzen sind.
Hinweis
1. Hat das FA nicht unter Nachprüfungsvorbehalt veranlagt, kann es die Steuerbescheide nicht mehr ohne Weiteres ändern. Eine Änderung kann auf neue Tatsachen gestützt werden (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO), wenn die Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen nicht den §§ 140 ff. AO entsprechen und das FA dies zuvor nicht wusste. Denn die Art und Weise, in der der Steuerpflichtige seine Aufzeichnungen geführt hat, ist eine Tatsache.
Alle gewerblichen Unternehmer i.S.v. § 15 EStG, § 2 GewStG sind nach § 143 Abs. 1 AO verpflichtet, den Wareneingang gesondert aufzuzeichnen. Auf eine Buchführungspflicht und die Art der Gewinnermittlung kommt es dabei ebenso wenig an wie auf die Größe und Art des Betriebs oder die Höhe der Umsätze und Wareneingänge. Das nachträgliche Bekanntwerden des Fehlens von Einkaufsbelegen kann das FA daher zur Änderung der Steuerbescheide berechtigen.
2. Die Nichterfüllung eines Benennungsverlangens kann dem FA die nachträgliche Kenntnis der Tatsache verschaffen, dass der Wareneingang nicht vorschriftsmäßig aufgezeichnet wurde.
Das Benennungsverlangen selbst und die Reaktion des Steuerpflichtigen (z.B. eine Weigerung, schlichtes Nichtstun oder die Mitteilung, zur Empfängerbenennung außerstande zu sein) kommen dagegen als nachträglich bekannt gewordene Tatsachen nicht in Betracht, wenn sie dem Erlass der Ausgangsbescheide zeitlich nachfolgen. Es handelt sich auch nicht um ein rückwirkendes Ereignis i.S.v. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO.
3. Eine Schätzung setzt die Verwirklichung eines Besteuerungstatbestands voraus. § 162 Abs. 1 und 2 AO erlauben daher nur die Schätzung quantitativer Größen, nicht aber die Schätzung qualitativer Besteuerungsmerkmale. Die Schätzung von Aufwendungen für den Wareneinkauf trotz fehlender Belege setzt deshalb die Gewissheit voraus, dass überhaupt Aufwendungen für den Wareneinkauf entstanden sind. Im Streitfall konnten daran Zweifel bestehen, weil Schrott z.B. auch durch Abbrucharbeiten oder Entrümpelungen beschafft werden kann.
4. Ob und in welchem Umfang ein zu Betriebsausgaben führender Wareneinkauf stattgefunden hat, ist nach § 88 Abs. 1 AO zu ermitteln. § 160 Abs. 1 Satz 1 AO verbietet derartige Ermittlung...