Prof. Dr. Helge F. R. Nuhn, Prof. Dr. Mike Schulze
Die Entwicklung von Reifegradmodellen hat in der Wirtschaftsinformatik einen großen Stellenwert mit umfangreichen theoretischen und praktischen Anwendungen. Der Begriff "Reife" impliziert dabei einen evolutionären Prozess einer Charakteristik, die ausgehend von einem initialen Zustand heranreift und einen Endzustand erreichen kann. Reifegradmodelle bauen daher in mehreren Stufen aufeinander auf. Sie dienen bspw. dazu, Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der Effektivität und Effizienz von Prozessen und Organisationsbereichen abzuleiten.
Im Folgenden wird ein Reifegradmodell für den Einsatz von KI im Controlling skizziert, das aus insgesamt 4 Stufen besteht (s. Abb. 2). Die Übergänge zwischen den einzelnen Reifegraden sind als fließend zu verstehen. Die Reifegrade sind auch nicht exklusiv, d. h. es ist eine parallele Ausprägung von mehreren Stufen in einem Unternehmen denkbar. Darüber hinaus können die Beschreibungen der einzelnen Stufen (insbesondere die der fortgeschrittenen Stufen) einer gewissen Unschärfe unterliegen. Nichtsdestotrotz vermittelt das Reifegradmodell ein Gesamtverständnis davon, wie zukünftig unterschiedliche Ausprägungsformen von KI im Controlling aussehen können.
Abb. 2: Reifegradmodell der Nutzung Künstlicher Intelligenz im Controlling
5.1 Stufe 1: Semi-intelligente Datenanalyse
Stufe 1 der KI-Nutzung entspricht vielfach bereits dem aktuellen Status Quo von Controllingbereichen in Unternehmen. Auf dieser ersten Stufe sind innerbetriebliche, strukturierte Daten in großer Menge vorhanden. Sie finden sich in den meisten Fällen in gut gepflegten ERP-Systemen, die ggf. mit neuen Technologien wie In-Memory-Datenbanken schnell unterschiedlichste Sichtweisen auf vorhandene Daten ermöglichen. Fortschrittliches, zumindest semi-intelligentes Verhalten tritt im Rahmen der Weiterverarbeitung und Analyse dieser großen innerbetrieblichen Datenmengen auf, wo durch die Anwendung von Machine-Learning-Algorithmen bessere und bislang nicht vorhandene Ergebnisse generiert werden, die eine effektive Entscheidungsunterstützung des Managements ermöglichen.
Semi-intelligente Datenanalyse bei der Deutschen Bahn
Unter Nutzung KI-gestützter Analysen wurden bei der DB Station & Service AG, einem Tochterunternehmen der Deutsche Bahn AG, unternehmensintern verfügbare Prozessdaten auf zuvor unbekannte Muster und Auffälligkeiten hin untersucht. Die dabei erzielten Ergebnisse umfassen sowohl neu entdeckte Auffälligkeiten in Arbeitsabläufen, als auch regionale Besonderheiten hinsichtlich Wartungsanforderungen. Das System setzt die identifizierten Muster vollautomatisch in Präsentationsfolien um. Diese Folien werden jeweils in einem Workshop mit Entscheidungsträgern sowie Analysten der DB Station & Service AG besprochen und kategorisiert. Etwa ein Drittel der automatisch identifizierten Muster sind für die Beteiligten neu und interessant, in diesen Fällen werden weitere Schritte abgestimmt und priorisiert. Das Beispiel zeigt: der Schlüssel zum produktiven Einsatz der semi-intelligenten Datenanalyse liegt in der sinnvollen Aufgabenverteilung zwischen Mensch und Maschine. Im vorliegenden Fall identifiziert die Maschine effizient relevante Muster in Daten, während der Mensch auf Basis seines Erfahrungswissens Neuheitsgrad und Anwendbarkeit der Erkenntnisse bewertet.
5.2 Stufe 2: Intelligente Assistenzfunktionen
Während Stufe 1 mit KI-Algorithmen auskommt, wie sie in Anwendungssoftware heutzutage bereits vielfach vorhanden sind, wird Stufe 2 auf KI-Systemen aufbauen, die den Controller proaktiver unterstützen. Dazu benötigen diese Systeme allerdings noch mehr Daten als Grundlage.
Kategorisierung von eingehenden E-Mails
Bei diesem Anwendungsfall ist ein KI-System mit dem persönlichen Mail-Account verknüpft. Die eingehenden E-Mails werden nicht mehr in chronologischer Reihenfolge ihres Eingangs gelesen, sondern sie werden vielmehr anhand von multivariaten Kategorisierungsverfahren vorsortiert sowie im Kontext bestimmter Geschäftsprozesse gruppiert. Dies geschieht im Hintergrund anhand von Schlüsselwörtern, die hinsichtlich ihrer Häufigkeit und/oder Bedeutung bewertet werden. Alternativ wird einer E-Mail seitens des KI-Systems besondere Priorität eingeräumt und sie direkt angezeigt, wenn sie Relevanz für eine aktuelle Tätigkeit bzw. Aufgabe des Controllers aufweist. Das KI-System ist darüber hinaus in der Lage, Empfängergruppen von E-Mail-Kommunikation größtenteils korrekt vorherzusagen oder bei erkannten Abweichungen im Adressatenkreis zu warnen, um Fehler beim Mailversand zu vermeiden.
Agentenbasiertes Dialogsystem
Ein zweites denkbares Anwendungsbeispiel ist ein agentenbasiertes Dialogsystem, das über Sprache oder Text angewiesen werden kann, einfache Tätigkeiten selbstständig auszuüben. So könnten typische Rückfragen zu fehlenden Daten bereits als Textbausteine in eine E-Mail überführt werden, die an den Datenlieferanten gesendet werden soll. Des Weiteren wird das KI-System sich immer dann melden, wenn aufgrund der verwendeten Anwendung...