Leitsatz
Eine kurzfristige Unterbrechung der mündlichen Verhandlung ist kein in das Sitzungsprotokoll aufzunehmender wesentlicher Vorgang. Die Unterbrechung ist konkludent angeordnet, wenn objektiv zu erkennen ist, dass zeitweilig nicht weiterverhandelt werden soll.
Normenkette
§ 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO a.F. , § 160, § 165 ZPO
Sachverhalt
Der Kläger betrieb eine Gaststätte. Im Anschluss an eine Steuerfahndung, bei der mangels Ordnungsmäßigkeit der Buchführung eine Nachkalkulation durchgeführt worden war, erhöhte das FA u.a. die ESt und die USt.
Das FG hat nach mehrmaliger Beweiserhebung der Klage teilweise stattgegeben. Die Revision hat es nicht zugelassen.
Mit der Revision rügte der Kläger, das Gericht sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, weil der Berichterstatter während der mündlichen Verhandlung gemeinsam mit dem Gerichtsprüfer für 2 Minuten den Gerichtssaal verlassen hätte, um im Beratungszimmer über den dort stehenden PC ein Tabellenkalkulationsprogramm aufzurufen.
Auf Anfrage des BFH teilte der Vorsitzende des FG mit, er habe versucht, den Rechtsstreit einvernehmlich beizulegen. In diesem Zusammenhang seien alle Beteiligten einverstanden gewesen, auf vom Berichterstatter im PC gespeicherte Kalkulationstabellen zurückzugreifen, um die rechnerischen und steuerlichen Auswirkungen einzelner Änderungsvorschläge sofort feststellen zu können. Damit sich der Berichterstatter das Programm im Beratungszimmer habe beschaffen können, sei die Sitzung unterbrochen worden. Die Unterbrechung habe er nicht protokollieren lassen.
Der Kläger widersprach, dass die Sitzung unterbrochen worden sei.
In der mündlichen Verhandlung beim BFH sind u.a. die Richter des FG und die Prozessvertreter der Beteiligten als Zeugen vernommen worden.
Entscheidung
Der BFH sah die Revision zwar als zulässig an, wies sie jedoch als unbegründet zurück.
Das FG sei ordnungsgemäß besetzt gewesen, weil mit der Entscheidung des Vorsitzenden, ein Kalkulationsprogramm im PC aufzurufen, die Sitzung tatsächlich unterbrochen worden sei.
Bei Würdigung der Zeugenaussagen sei die Unterbrechung objektiv erkennbar gewesen. Die Beteiligten hätten den Vorschlag des Vorsitzenden nicht nur wahrnehmen können, sondern hätten ihm sogar stillschweigend zugestimmt.
Hinweis
1. Wenn ein Richter des erkennenden Finanzgerichts während der fortdauernden mündlichen Verhandlung den Sitzungssaal zeitweilig verlässt, führt das dazu, dass das Gericht bei seiner Urteilsfindung nicht vorschriftsmäßig besetzt war. Darin liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel, aufgrund dessen eine Revision gegen das ergangene Urteil auch ohne ausdrückliche Zulassung statthaft ist (sog. zulassungsfreie Revision; § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung). Ein Verfahrensfehler liegt nur dann nicht vor, wenn die Sitzung vorher unterbrochen war, weil z.B. eine Sitzungspause angeordnet wurde.
2. Die Anordnung einer Sitzungspause gehört zu den verfahrensleitenden Handlungen, die der Vorsitzende Richter vorzunehmen hat. In der Regel ordnet der Vorsitzende eine Sitzungspause ausdrücklich an; diese wird dann auch regelmäßig in das Protokoll aufgenommen.
Möglich ist allerdings auch die konkludente Anordnung einer Sitzungspause. Dazu ist erforderlich, dass die Absicht, die mündliche Verhandlung zu unterbrechen, objektiv erkennbar ist. Ob die Parteien subjektiv das entsprechende Verhalten des Vorsitzenden richtig gedeutet oder tatsächlich zur Kenntnis genommen haben, ist nicht entscheidend.
3. Die Beachtung der für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten, zu denen auch die Aufnahme der wesentlichen Vorgänge der Verhandlung gehören, kann nur durch das Protokoll bewiesen werden (§ 155 FGO i.V.m. §§ 165, 160 Abs. 2 ZPO). Die Anordnung einer lediglich kurzfristigen Sitzungspause ist kein wesentlicher Vorgang der Verhandlung. Deshalb ist es unerheblich, wenn aus dem Protokoll nicht hervorgeht, dass der Vorsitzende die mündliche Verhandlung – ausdrücklich oder konkludent – nur kurzfristig unterbrochen hatte.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 12.6.2001, XI R 58/99