Leitsatz
1. Wendet die Zollverwaltung für die Festsetzung der Einfuhrabgaben maßgebende Vorschriften in ständiger Praxis nicht an und unterbleibt deshalb die buchmäßige Erfassung des der Zollschuld entsprechenden Abgabenbetrags, liegt auch dann ein sog. "aktiver" Irrtum der Zollbehörde i.S.d. Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK vor, wenn die maßgebenden Vorschriften bewusst nicht beachtet werden.
2. Unterlässt der Zollschuldner im schützenswerten Vertrauen auf den Fortbestand einer solchen Verwaltungspraxis bestimmte Angaben in seiner Zollanmeldung, ist der frühere Irrtum der Zollbehörde, auch wenn diese ihre Praxis inzwischen aufgegeben hat, weiterhin ursächlich für die unzutreffende Abgabenerhebung, sodass von der Nacherhebung der Einfuhrabgaben unter den weiteren Voraussetzungen des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK abzusehen ist.
Normenkette
Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. ii, Art. 32 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i, Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK
Sachverhalt
Jahrelang hatten die Zollbehörden (offenbar mit Deckung der Europäischen Kommission) geduldet, dass dem drittländischen Produzenten zur Verfügung gestellte Behälter bei der Einfuhr der (in diese abgefüllten) Waren nicht in den Zollwert einbezogen wurden (also wie Rückwaren bzw. Waren aus einer passiven Veredelung behandelt wurden, sodass man sich also den Aufwand der Eröffnung solcher Veredelungsverkehre erspart hatte). Dann gaben sie diese Praxis auf, verlangten die Eröffnung solcher Verkehre und erhoben Zoll auch für bereits zurückliegende Lieferungen nach (FG Hamburg, Urteil vom 27.10.2009, 4 K 129/07).
Entscheidung
Der BFH hat das gem. Art. 220 Abs. 2 ZK missbilligt und die Bescheide aufgehoben. Die Behörden hatten (aktiv) geirrt und der Zollbeteiligte hatte das nicht erkennen können.
Hinweis
Von der nachträglichen buchmäßigen Erfassung von Einfuhrabgaben ist bekanntlich abzusehen, wenn drei Voraussetzungen – kumulativ – erfüllt sind: Die Nichterhebung muss auf einem Irrtum der zuständigen Behörden beruhen; es muss sich um einen Irrtum handeln, der für einen gutgläubigen Abgabenschuldner nicht erkennbar war, und dieser muss alle geltenden Vorschriften über seine Zollerklärung eingehalten haben (vgl. EuGH, Urteil vom 03.03.2005, C 499/03"P Biegi Nahrungsmittel, Commonfood", Slg. 2005, I 1751, ZfZ 2005, 228).
Zu berücksichtigen ist dabei nicht etwa nur ein Irrtum, welcher der Behörde im direkten zeitlichen Zusammenhang mit der betreffenden Zollanmeldung unterlaufen ist; es kann sich auch um einen früher begangenen Irrtum handeln, der jedoch fortwirkt und den Zollbeteiligten jetzt zu einer falschen Zollanmeldung verleitet (vgl. EuGH, Urteil vom 19.10.2000, C 15/99"Sommer", Slg. 2000, I 8989, ZfZ 2001, 13).
"Irrtum" i.S.d. Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK ist dabei jedwede unrichtige Auslegung oder Anwendung der einschlägigen Rechtsvorschriften (EuGH-Urteil in Slg. 1991, I‐3277, Rz. 20, ZfZ 1992, 388). Deshalb hat der BFH im Besprechungsfall den – kühnen – Einwand der Zollbehörde nicht gelten lassen, man habe gar nicht geirrt, sondern das Unionsrecht gleichsam absichtlich nicht (richtig) angewandt.
Soweit Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 1 ZK für ein Absehen von der Nacherhebung der Einfuhrabgaben weiterhin fordert, dass der Zollschuldner alle geltenden Vorschriften über die Zollanmeldung eingehalten hat, ist ein Absehen von der Nacherhebung auch dann nicht ausgeschlossen, wenn der Zollbeteiligte aufgrund des Irrtums der Zollbehörde dieser unrichtige oder unvollständige Daten angegeben hat (sofern er dies in gutem Glauben getan hat und vernünftigerweise nur diese Daten kennen oder sich beschaffen konnte (vgl. EuGH-Urteile in Slg. 1991, I-3277, Rz. 29, ZfZ 1992, 388; v. 14.05.1996, C-153/94 und C-204/94 – Faroe Seafood –, Slg. 1996, I-2465, Rz. 109, ZfZ 1997, 12).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 07.06.2011 – VII R 36/10