Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer 1993
Leitsatz (redaktionell)
Bei einer Veranlagung in „aktenlosen Verfahren” gilt eine unbekannt gebliebene Tatsache im Hinblick auf die Änderungsbefugnis nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO dann nicht als „neu”, wenn zu einer (fiktiven) Einkommensteuerakte mit den Vorgängen der beiden Vorjahre vor der Schlußzeichnng der Veranlagung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Schriftstück gelangt wäre, durch dessen Inhalt sich Ermittlungen zu der Tatsache aufgedrängt hätten.
Tenor
Der Einkommensteuerbescheid vom 06.03.1995 und der Einspruchsbescheid vom 27.04.1995 werden aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der an die Kläger und die Beigeladene zu erstattenden Kosten abwenden, wenn nicht die Kläger und die Beigeladene vor der Vollstreckung Sicherheit leisten.
Tatbestand
Streitig ist, ob den Klägern ein weiterer Kinderfreibetrag und der volle Behindertenpauschbetrag für den Sohn O zustehen.
Der Kläger und die Beigeladene sind die leiblichen Eltern ihres 1965 geborenen Sohnes O. O ist körperbehindert und völlig hilflos. Er lebt in einer Behindertentagesstätte. Seit O volljährig ist (1983), werden die durch die Unterbringung entstehenden Kosten durch den Sozialhilfeträger übernommen. Ein Rückgriff bei den Eltern erfolgt nicht.
Bis 1991 und zunächst auch für 1992 und 1993 (Streitjahr) wurdender doppelte Kinderfreibetrag und der – dem Grunde nach unstreitige – volle Körperbehindertenpauschbetrag für O bei der Veranlagung der Kläger berücksichtigt. Die Veranlagungen erfolgten ausweislich der auf den Steuererklärungen angebrachten Eingangsnummern im sogenannten „aktenlosen Verfahren”, bei dem dem Bearbeiter nur die eingereichte Steuererklärung vorliegt und er durch Verwaltungsanweisungen gehalten ist, im Regelfall auf die Einsicht in die weggelegten Vorgänge der Vorjahre zu verzichten.
Die Beigeladene legte gegen die Versagung der hälftigen kindbedingten Entlastungen in ihrem Einkommensteuerbescheid 1992 erfolgreich Einspruch ein. Die Kläger waren zu diesem Rechtsbehelfsverfahren durch Verwaltungsakt vom 05.05.1994 (Bl. 15 Einkommensteuerakte – EStA) hinzugezogen. Der Beklagte änderte die Veranlagung 1992 der Kläger wegen widerstreitender Steuerfestsetzung gem. § 174 Abs. 4 AO. Der Änderungsbescheid wurde bestandskräftig.
Mit Bescheid vom 06.03.1995 (Bl. 57 EStA) änderte der Beklagte auch den Einkommensteuerbescheid 1993 vom 05.07.1994 und berücksichtigte auch hier nur noch die hälftigen kindbedingten Entlastungen. Die Änderung wurde auf die Vorschrift des § 173 Abs. 1 AO gestützt, wonach Steuerbescheide zu ändern sind, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Das Einspruchsverfahrenblieb erfolglos (Einspruchsbescheid vom 27.04.1995 – Bl. 73 EStA). Hiergegen richtet sich die Klage.
Die Kläger sind der Auffassung, ihnen stehe der doppelte Kinderfreibetrag und der ungekürzte Körperbehindertenpauschbetrag zu. Mit Beschluß vom 23.01.1976 (Amtsgericht – Bl. 20 EStA) sei die elterliche Gewalt für O dem Kläger übertragen worden. Dadurch seien der Beigeladenen „alle Rechte an meinem Sohn O aberkannt” worden. Durch weiteren Beschluß des Amtsgerichts vom 03.09.1993 (Amtsgericht) sei die Unterbringung von O in dem Heim angeordnet und gleichzeitig eine Betreuung eingerichtet worden. Betreuer sei der Kläger, und zwar mit dem Wirkungskreis der Bestimmung des Aufenthalts, der Regelung der Vermögensangelegenheiten und der Gesundheitsfürsorge einschließlich der Zustimmung zu ärztlichen Behandlungsmaßnahmen und sonstigen therapeutischen Maßnahmen. Die Beigeladene pflege im Gegensatz zum Kläger keinerlei persönliche Kontakte mehr zu O. Die streitigen Freibeträge dienten begrifflich und von ihrer gesetzlichen Intention her der Entlastung eines Steuerpflichtigen wegen bestehender außergewöhnlicher Aufwendungen und Belastungen, die vorliegend allein den klagenden Ehemann treffen.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
den Einkommensteuerbescheid vom 06.03.1995 und den Einspruchsbescheid vom 27.04.1995 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er meint, die Voraussetzungen für eine Übertragung des hälftigen Kinderfreibetrags und hälftigen Körperbehindertenpauschbetragsvon der Beigeladenen auf die Kläger seien nicht gegeben. Wenn, wie im Streitfall, der leibliche Elternteil einer Übertragung des ihm zustehenden Kinderfreibetrags nicht zustimme, könnten nach der gesetzlichen Regelung auf Antrag eines Elternteils die kindbedingten Entlastungen des anderen Elternteils nur dann auf ihn übertragen werden, wenn er, nicht jedoch der andere Elternteil, seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind für das Kalenderjahr im wesentlichen nachgekommen sei (§ 32 Abs. 6 Satz 4 Einkommensteuergesetz – EStG). Unterhaltsleistungen für seinen Sohn habe der Kläger jedoch nicht erbracht. Die Änd...