Entscheidungsstichwort (Thema)
Spezieller Ermessensfehler bei der Haftung nach § 75 AO
Leitsatz (redaktionell)
- Bei einer Unternehmensübereignung wird die Beschränkung der Haftung nach § 75 Abs. 1 Satz 2 AO grds. erst in der Zwangsvollstreckung und auch dann nur auf Einwendung hin relevant.
- Die haftungsweise Inanspruchnahme des Betriebserwerbers ist nicht ermessensgerecht, wenn bereits beim Erlass des Haftungsbescheides bzw. spätestens bei Ergehen der Einspruchsentscheidung als dem Zeitpunkt der abschließenden Ausübung des Haftungsermessens feststeht, dass kein übernommenes Vermögen mehr vorhanden ist, in das vollstreckt werden kann.
- Der Haftungsbescheid kann im Einspruchsverfahren nicht mehr aufrechterhalten werden, wenn der Betriebsübernehmer durch seinen Einspruch deutlich macht, dass er für die Steuerschuld des Veräußerers nicht einstehen will.
Normenkette
AO § 75 Abs. 1
Streitjahr(e)
2004, 2005
Tatbestand
Streitig ist die Haftung der Klägerin als Betriebsübernehmerin nach § 75 Abgabenordnung (AO).
Der Ehemann der Klägerin, A, hatte seit Mai 2000 ein Transport- und Speditionsunternehmen als Handelsgeschäft betrieben, zuletzt unter derselben Anschrift wie der Klägerin. Er verfügte im Kalenderjahr 2005 über neun Lkw, die zum Teil geleast waren oder im Wege eines Mietkaufs erworben worden waren. Mehrere Lkw wurden am 8. Dezember 2005 und am 27. Dezember 2005 abgemeldet. Er hatte neun Arbeitnehmer beschäftigt. Am 4. Oktober 2005 stellte die AOK den ersten Insolvenzantrag, dieser konnte durch Zahlung abgewendet werden. Am 15. November 2005 stellte die AOK den zweiten Insolvenzantrag. Der Rechtsanwalt B wurde mit der Erstellung eines Gutachtens zur Überprüfung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens beauftragt. Ab dem 12. Januar 2006 setzte das Insolvenzgericht ihn als vorläufigen Insolvenzverwalter ein. Im Gutachten vom 13. Juni 2006 bejahte der vorläufige Insolvenzverwalter das Vorliegen der Voraussetzungen zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Über das Vermögen des Ehemannes wurde am 16. Juni 2006 das Insolvenzverfahren eröffnet.
Die Klägerin ist als Arbeitnehmerin beruflich tätig. Zum 1. September 2005 meldete sie bei der Gemeinde C unter der Betriebsstättenanschrift ein Transportunternehmen als Einzelunternehmen an. Die Klägerin gab erstmals für Dezember 2005 eine Umsatzsteuer-Voranmeldung ab, mit der sie ausschließlich Vorsteuerbeträge geltend machte. Die Klägerin übernahm aus dem Betrieb des Ehemannes einige Wirtschaftsgüter.
Für drei Lkw (amtliches Kennzeichen …) wurde die bisherige Finanzierung des Ehemannes fortgesetzt. Dies geschah in der Weise, dass der Fahrzeugeigentümer (X-AG) auf Grundlage des bestehenden Mietkaufvertrages zwischen X-AG und dem Ehemann mit der Klägerin und dem Ehemann eine Zusatzvereinbarung trafen, in der sich die Klägerin verpflichtete, die monatlichen Raten zu zahlen. Die Mietkaufverträge wurden von der Klägerin von ihrem Ehemann übernommen. Nur der übernommene Mietkaufvertrag für den Lkw mit dem amtlichen Kennzeichen … valutierte mit einem Wert von 9.000 € zugunsten der Klägerin und wurde vom Insolvenzverwalter angefochten. Die anderen beiden Mietverträge wurden im Laufe des Jahres 2006 beendet.
Einen vierten Lkw (mit dem amtl. Kennzeichen …) erwarb die Klägerin direkt von ihrem Ehemann. Der Kaufvertrag datiert vom 3. September 2005. Alle vier Lkw meldete sie am 8. Dezember 2005 bei der Zulassungsstelle auf ihren Namen an. Der Insolvenzverwalter über das Vermögen des Ehemannes focht den Kaufvertrag vom 3. September 2005 gem. § 133 Abs. 2 Insolvenzordnung (InsO) an und verkaufte den Lkw (amtliches Kennzeichen …) mit Rechnung vom 19. Dezember 2006 erneut an die Klägerin.
Darüber hinaus übernahm die Klägerin die Büromöbel ihres Ehemannes.
Das von der Klägerin übernommene Vermögen umfasste den am 3. September 2005 erworbenen Lkw. Die anderen Wirtschaftsgüter (Rechte aus dem Mietkaufvertrag und Büromöbel) waren wertmäßig unbeachtlich. Der Wert des übernommenen Lkws (mit dem amtl. Kennzeichen …) und damit des übernommenen Vermögens hat der Beklagte im Haftungsbescheid mit 18.650 € bemessen.
Die Klägerin stellte ihren Ehemann als Fahrer ein. Weiterhin beschäftigte sie drei frühere Fahrer des Betriebs des Ehemannes. Die Einstellung ihres Ehemannes und der drei weiteren Fahrer erfolgte zum 1 Januar 2006. Die Klägerin unterhielt zumindest mit zwei Auftraggebern des früheren Betriebs ihres Ehemannes Geschäftsbeziehungen. Sie verwendete die Firmenbezeichnung des früheren Betriebs („…”) weiter. Am 31. Dezember 2006 waren nur noch der Ehemann und ein weiterer LKW-Fahrer beschäftigt.
Der Ehemann hinterließ betrieblich begründete Steuern (Lohnsteuer, Lohnkirchensteuer, Solidaritätszuschlag und Umsatzsteuer) in Höhe von 14.320,69 EUR. Daraufhin nahm der Beklagte die Klägerin mit Haftungsbescheid vom 22. Juni 2006 nach § 75 AO für folgende Abgabenforderungen in Haftung:
Steuerart |
Betrag in EUR |
Lohnsteuer November 2005 |
144,24 |
Lohnsteuer Dezember 2005 |
1.700,00 |
Umsatzsteuer 2004 |
3.196,11 |
Umsatzsteuer Sep... |