Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachträglich bekannt gewordene Schätzungsgrundlagen und neue Tatsache i.S.v. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO
Leitsatz (redaktionell)
- Vermutungen, Verdachtsmomente und Wahrscheinlichkeiten sind keine Tatsachen. Eine Tatsache besteht erst, wenn über einen Lebensvorgang Gewissheit herrscht. Auch die Schätzung ist keine Tatsache.
- Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO wegen nachträglich bekannt gewordener Schätzungsgrundlagen ist nur möglich, wenn die nachträglich entstandene Hilfstatsache einen sicheren Schluss auf die (innere) Haupttatsache ermöglicht. Die objektive Beweislast (Feststellungslast) für die tatsächlichen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO trägt das FA.
Normenkette
AO § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Streitjahr(e)
1995
Nachgehend
Tatbestand
Streitig ist, ob das Finanzamt (FA) den Einkommensteuerbescheid gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) ändern durfte und in welcher Höhe ggf. Trinkgelder als Arbeitslohn anzusetzen sind.
Der Kläger (Kl.) war im Streitjahr als Kellner in der von der Betriebsgesellschaft W GmbH (im Folgenden: W) geführten Autobahnraststätte G beschäftigt. In ihrer Einkommensteuererklärung machten die Kl. keine Angaben zu erhaltenen Trinkgeldern. Gegenüber seinem Arbeitgeber hatte der Kl. monatlich die von ihm erhaltenen und aufgezeichneten Trinkgelder erklärt. Das erklärte Trinkgeld überstieg um 103 DM den Freibetrag von 2.400 DM. Diese 103 DM waren – ohne gesonderten Ausweis – in dem lohnversteuerten und auf der Lohnsteuerkarte ausgewiesenen Bruttoarbeitslohn des Kl. enthalten.
Das FA veranlagte die Kl. zunächst unter Ansatz des auf der Lohnsteuerkarte ausgewiesenen Bruttoarbeitslohnes mit dem Einkommensteuerbescheid vom 6. November 1996.
Im Rahmen einer 1999 bei der G durchgeführten Lohnsteuer-Außenprüfung stellte der Prüfer fest, dass der Kl. im Streitjahr 444.832,80 DM Kellnerumsatz erzielt hatte und schätzte, dass er 2,5 % des Umsatzes als Trinkgeld erhalten habe. Daher seien nach Abzug des Freibetrages und des bereits versteuerten Trinkgeldes weitere 8.617,82 DM als Einnahme zu erfassen.
Entsprechend der Prüfungsmitteilung des FA für Körperschaften vom 16. Juli 1999 änderte das FA den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid mit Bescheid vom 1. September 1999 gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO.
Hiergegen richtet sich nach erfolglosem Einspruch die Klage. Die Kl. machen geltend, der Kl. habe keine höheren als die seinem Arbeitgeber erklärten und bereits steuerlich berücksichtigten Trinkgelder erhalten. Eine neue Tatsache i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO liege nicht vor, da schon bei Durchführung der Veranlagung der Kellnerumsatz des Kl. bekannt gewesen und im Rahmen der Lohnsteuer-Außenprüfung auch nicht angezweifelt worden sei, als auch die Trinkgelderklärungen des Kl., die zudem in den einzelnen Monaten über dem anteiligen monatlichen Freibetrag von 200 DM gelegen hätten, bei der Lohnversteuerung durch den Arbeitgeber berücksichtigt worden seien.
Der im Rahmen der Lohnsteuer-Außenprüfung geäußerte Verdacht bzw. die Vermutung, dass die vorliegenden Trinkgelderklärungen nahezu aller bei dem geprüften Unternehmen beschäftigten Kellner aufgrund der getroffenen Feststellungen und der allgemeinen Lebenserfahrung nicht zutreffend seien, stellten keine neuen Tatsachen i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO dar. Eine neue Tatsache sei erst dann gegeben, wenn über einen Lebensvorgang Gewissheit bestehe.
Selbst bei Annahme einer neuen Tatsache habe das FA nicht gem. § 162 Abs. 1 AO schätzen dürfen. Gem. § 162 Abs. 2 Satz 1 AO seien Besteuerungsgrundlagen insbesondere dann zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichenden Aufklärungen zu geben vermöge oder weitere Auskunft oder eine Versicherung an Eides statt verweigere oder seine Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 2 AO verletze. Der Kl. habe demgegenüber die von ihm vereinnahmten Trinkgelder nach bestem Wissen und Gewissen täglich aufgezeichnet und entsprechend ordnungsgemäß monatlich seinem Arbeitgeber zur Lohnversteuerung erklärt.
Selbst unter der Annahme, dass eine neue Tatsache vorliege und eine Schätzung zulässig sei, sei die pauschale Schätzung in Höhe von 2,5 % des erzielten Kellnerumsatzes nicht sachgerecht. Der Kl. habe bezogen auf seinen Kellnerumsatz ein prozentuales Trinkgeld in Höhe von 0,65 % erklärt. Diese Trinkgeldhöhe könne bei ausreichender Würdigung der Gegebenheiten nicht angezweifelt werden. Die Gaststätte sei im Streitjahr eine imbissartig betriebene Autobahnraststätte mit nicht besonders angenehmen Räumlichkeiten gewesen. Bei den Gästen habe es sich um Durchreisende mit einem hohen Ausländer- insbesondere Skandinavier-Anteil gehandelt, welche stets davon ausgingen, dass ein evtl. Trinkgeld im Preis enthalten sei. Gerade bei den ausländischen Gästen sei der Anteil an unbarer Rechnungsbegleichung sehr hoch, da in der Regel keine DM aufgrund der Durchreise durch die Bundesr...