Leitsatz
Ein Anspruch auf Prozesszinsen nach § 236 AO besteht nicht für den Zeitraum, in dem während eines Klageverfahrens die Vollziehung des Steuerbescheids aufgehoben wurde und die Finanzbehörde daraufhin den Steuerbetrag an den Steuerpflichtigen zurückgezahlt hat.
Normenkette
§ 236, § 238 AO, § 69 FGO
Sachverhalt
Die Klägerin begehrt Prozesszinsen auch für einen Zeitraum, in dem die Steuern aufgrund einer AdV an sie zurückgezahlt worden waren.
Das FG urteilte, die Versagung von weiteren Prozesszinsen sei rechtmäßig (FG Hamburg, Urteil vom 22.2.2019, 4 K 53/18, Haufe-Index 13125283, EFG 2019, 948).
§ 236 Abs. 1 AO liege die Erwägung des Normgebers zugrunde, dem Gläubiger eines Erstattungsanspruchs für die Vorenthaltung des Kapitals und der damit verbundenen Nutzungsmöglichkeiten zumindest für die Zeit ab Rechtshängigkeit eine Entschädigung zu gewähren. § 236 AO sei auf einen Ausgleich zwischen den Zinsvorteilen des Steuergläubigers und dem Zinsverlust des Steuerpflichtigen ausgerichtet. Deshalb stehe dem Steuerpflichtigen ein Zinsanspruch nur für Zeiträume zu, in denen er die streitige Steuerforderung auch tatsächlich entrichtet habe.
Entscheidung
Der BFH hat die Revision als unbegründet zurückgewiesen.
Hinweis
1. Erstmals hatte der BFH die Frage zu entscheiden, ob ein Steuerpflichtiger Prozesszinsen auch für den Zeitraum beanspruchen kann, in dem ihm die entrichtete Steuer aufgrund einer AdV vorübergehend zurückgezahlt worden war.
2. Wird durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder aufgrund einer solchen Entscheidung eine festgesetzte Steuer herabgesetzt oder eine Steuervergütung gewährt, so ist gemäß § 236 Abs. 1 Satz 1 AO der zu erstattende oder zu vergütende Betrag vorbehaltlich § 236 Abs. 3 AO vom Tag der Rechtshängigkeit an bis zum Auszahlungstag zu verzinsen. Ist der zu erstattende Betrag erst nach Eintritt der Rechtshängigkeit entrichtet worden, so beginnt die Verzinsung gemäß § 236 Abs. 1 Satz 2 AO mit dem Tag der Zahlung.
Für den Streitfall enthält das Gesetz keine ausdrückliche Regelung.
3. Der BFH hat sich ausführlich mit der Historie der Prozesszinsen befasst und kam zu dem Schluss, dass sich aus den Materialien zur Entstehungsgeschichte und Entwicklung des § 236 AO ergebe, dass der Gesetzgeber von Anfang an die Verzinsung auf gezahlte Beträge beschränken und die Gewährung von Prozesszinsen als eine Billigkeitsregelung für die Fälle vorsehen wollte, in denen dem Steuerpflichtigen während eines gerichtlichen Verfahrens ein entrichteter Betrag möglicherweise für einen längeren Zeitraum vorenthalten bleibt, weil die Erhebung der Klage gemäß § 69 Abs. 1 FGO keinen Suspensiveffekt hat.
Wird dem Steuerpflichtigen der gezahlte Betrag aufgrund der AdV zumindest vorübergehend zurückgezahlt, so kann er über das Geld verfügen und damit wirtschaften, wodurch sich die (vorübergehende) Erstattung einer Steuer positiv auf seine Liquidität auswirkt. Eine Verzinsung auch für diesen Zeitraum würde zu einer Überkompensation führen und stünde daher im Widerspruch zum Sinn und Zweck der Regelung und zu den Motiven des Gesetzgebers.
4. Bedenkenswert sind die Auswirkungen dieser Rechtsprechung auf die Fälle, in denen AdV nur gegen Sicherheitsleistung (§ 69 Abs. 2 Satz 3 FGO, Art. 45 Abs. 3 UZK) gewährt wird. Die Einzelheiten der Sicherheitsleistung richten sich nach §§ 241ff. AO. In der Praxis bedeutsam sind die Hinterlegung des Betrags bei der zuständigen Finanzbehörde (§ 241 Abs. 1 Nr. 1 AO) oder eine Bürgschaft (§§ 241 Abs. 1 Nr. 7, 244 AO).
Für eine Bürgschaft berechnen die Banken eine Provision, sodass man sich fragen könnte, ob dieser Provisionsaufwand den Liquiditätsvorteil des Steuerpflichtigen beeinflusst und der Ausschluss der Verzinsung noch gerechtfertigt ist.
5. Folgenbeseitigungs- oder Schadensersatzansprüche werden durch die Verzinsungsregelung in § 236 AO nicht ausgeschlossen. Über eventuelle Amtshaftungsansprüche der Klägerin hatte der BFH jedoch nicht zu entscheiden. Hierfür sind die ordentlichen Gerichte zuständig (Art. 34 Satz 3 GG, § 839 BGB, § 71 Abs. 1 Nr. 2 GVG).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 17.5.2022 – VII R 34/19