Entscheidungsstichwort (Thema)
Öffentliche Zustellung eines Haftungsbescheides
Leitsatz (redaktionell)
1. Es ist ernstlich zweifelhaft, ob Haftungsbescheide öffentlich zugestellt werden dürfen, wenn der Haftungsschuldner bei Erlass der Bescheide inhaftiert ist.
2. Die öffentliche Zustellung eines Verwaltungsaktes kann nur als „ultima Ratio” der Bekanntgabemöglichkeit in Betracht kommen. Die Behörde ist gehalten, vorher zumindest den Akteninhalt auszuwerten sowie eine zeitnahe Auskunft über den Aufenthalt des Zustellempfängers bei dem zuständigen Einwohnermeldeamt oder der Polizei einzuholen.
3. Etwaige Zweifel an der Bestandskraft von Haftungsbescheiden gehen zu Lasten des Finanzamts.
Normenkette
AO 1977 § 122 Abs. 3 S. 1; VwZG § 15 Abs. 1 Buchst. a; FGO § 69 Abs. 3, 2 S. 2
Tenor
1. Die Vollziehung der Haftungsbescheide vom 11.12.2000 über Lohnsteuerverbindlichkeiten in Höhe von 5.956,59 DM sowie über Körperschaftsteuerverbindlichkeiten und Solidaritätszuschlag in Höhe von 88.558 DM wird bis einen Monat nach Ergehen der Einspruchsentscheidung in dem bei dem Finanzamt anhängigen Einspruchsverfahren von der Vollziehung ausgesetzt.
2. Die Vollziehung der Pfändungsverfügung gegen die Justizvollzugsanstalt vom 20.02.2001, Aktenzeichen, wird bis eine Woche nach Ergehen der Einspruchsentscheidung in dem bei dem Finanzamt anhängigen Einspruchsverfahren über die Haftungsbescheide vom 11.12.2000 aufgehoben.
3. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten im Rahmen des gerichtlichen Aussetzungsverfahrens um die Rechtmäßigkeit zweier gegen den Antragsteller ergangener Haftungsbescheide sowie um die Rechtmäßigkeit einer erlassenen Pfändungs- und Einziehungsverfügung.
Der Antragsteller befindet sich seit Juni 2000 in Untersuchungshaft. Er wurde von dem Beklagten (dem Finanzamt -FA-) als ehemaliger Geschäftsführer der Firma S. GmbH durch zwei Haftungsbescheide vom 11.12.2000 für Lohnsteuer- und Körperschaftsteuerverbindlichkeiten dieser Firma in Höhe von 5.956,59 DM und 88.558 DM in Haftung genommen. Mit Verfügung vom 18.12.2000 ordnete das FA die öffentliche Zustellung dieser beiden Haftungsbescheide an. In einem Aktenvermerk vom 20.02.2001 stellte ein Mitarbeiter des FA fest, nach „Akteneinsicht in die Vollstreckungsakte M., St.Nr. „stellte sich heraus, dass der Vollstreckungsschuldner zur Zeit in der JVA inhaftiert ist” (Bl. 14 der Vollstreckungsakte).
Am 20.02.2001 erließ das FA unter dem Aktenzeichen Pf 26/01/1-118/03327-H eine Pfändungs- und Einziehungsverfügung über 91.167,59 DM gegen die Justizvollzugsanstalt (JVA), in der der ASt zu diesem Zeitpunkt einsaß. Mit dieser Verfügung sollten insbesondere die Forderungen des ASt aus dem der Pfändung unterliegenden Gefangenengeld gepfändet werden (Bl. 15 der Vollstreckungsakte). Am 27.02.2001 gab die JVA die Drittschuldnererklärung ab; die Forderung des FA wurde nicht bestritten, der ASt verfüge jedoch nicht über ein pfändbares Einkommen, da er derzeit nicht zur Arbeit eingesetzt sei. Auch lägen bereits drei vorrangige Forderungen vor (Bl. 17 der Vollstreckungsakte).
Gegen diese Pfändungsverfügung wandte sich der ASt mit Schreiben vom 11.03.2001. Zwar sei er für wenige Tage Geschäftsführer und Gesellschafter der S. GmbH geworden, der entsprechende Vertrag sei jedoch wenige Tage nach Unterzeichnung von ihm wieder gekündigt worden, da das Unternehmen Steuerschulden bei dem Finanzamt gehabt habe. In dem Firmen-Übernahmevertrag sei ihm jedoch zugesichert worden, dass die Firma keine solchen Schulden habe. Zur Eintragung seiner Person als Geschäftsführer in das Handelsregister sei es nur gekommen, da er sich seit Juni 2000 in Haft befinde und sich nicht dagegen habe wehren können.
Der ASt erhob gegen die Pfändungsverfügung Klage zum Sächsischen Finanzgericht, die dort unter dem Aktenzeichen 3 K 2189/01 geführt wird. Er habe mit der Firma S. GmbH nichts zu tun und könne deshalb für deren Schulden nicht in Haftung genommen werden. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb das FA Pfändungsmaßnahmen ergreife, ohne vorher über den gegen die Haftungsbescheide eingelegten Einspruch zu entscheiden. Die durch das FA bewirkte öffentliche Zustellung der Haftungsbescheide hätte im übrigen nicht erfolgen dürfen, da er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Haft befunden habe und deshalb keine Kenntnis von diesen Bescheiden erlangt habe.
Mit Zustellung der Antragsschrift forderte das Gericht das FA zur Übersendung der Akten auf. Das FA legte darauf hin die Vollstreckungs- und die Rechtsbehelfsakten vor. Mit Verfügung vom 08.01.2002 forderte das Gericht das FA darüber hinaus auf, die Haftungsakte zu übersenden, aus der sich die von dem FA dargetane Bestandskraft des Haftungsbescheides vom 11.12.2000 ergebe (Bl. 16 der FG-Akte). Das FA übersandte darauf hin die Anordnung der öffentlichen Zustellung durch das FA vom 18.12.2000 (Bl. 22, 23 der FG-Akte 3 K 2189/01), die Haftungsbescheide vom 11.12.2000 (Bl. 24-32 der FG-Akte 3 K 2189/01), den Einspruch des anwaltlichen V...