rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen des Vollstreckungsschuldners. Ermessensentscheidung. Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts
Leitsatz (redaktionell)
1. Zu den nach § 850c Abs. 1 Satz 2 ZPO berücksichtigungsfähigen Unterhaltszahlungen gehören grundsätzlich nur die gesetzlichen, nicht auch vertragliche Unterhaltsverpflichtungen, wobei jedoch die vertragliche Ausgestaltung einer gesetzlichen Unterhaltspflicht – zum Beispiel durch einen gerichtlichen Vergleich oder eine Scheidungsvereinbarung – nicht schadet.
2. Für die Gewährung der Freibeträge nach § 850c Abs. 1 Satz 2 ZPO ist es ohne Belang, ob die Unterhaltsleistungen, die der Schuldner aufgrund seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht zu erbringen hat und auch tatsächlich erbringt, den jeweiligen Pauschalbetrag erreichen oder übersteigen.
3. Dem Finanzamt als Abgabengläubiger kommt im Vollstreckungsverfahren zugleich die Funktion des Vollstreckungsgerichts zu. Es hat im Rahmen des § 850c Abs. 4 ZPO eine Abwägung nach billigem Ermessen vorzunehmen, mithin eine Ermessensentscheidung zu treffen.
4. Ein zur Aufhebung der Entscheidung führender Ermessensfehler ist gegeben, wenn das Finanzamt den entscheidungserheblichen Sachverhalt – im Streitfall konkret die Höhe der eigenen Einkünfte sowie den Unterhaltsbedarf der unterhaltsberechtigten Tochter des Schuldners – nicht ermittelt und folglich auch nicht in seine Abwägung eingestellt hat.
Normenkette
AO §§ 319, 5; ZPO § 850c Abs. 1 S. 2, Abs. 4
Tenor
1. Die Verfügung vom 3. April 2018 zum Aktenzeichen „…” in Gestalt der Änderungsverfügung vom 12. Oktober 2018 und der Einspruchsentscheidung vom 20. Dezember 2018 wird hinsichtlich der Anordnung für die Tochter des Klägers, A, mit Wirkung ab Oktober 2018 aufgehoben.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Streitig ist eine Anordnung nach § 319 der Abgabenordnung (AO) i. V. m. § 850c Abs. 4 der Zivilprozessordnung (ZPO).
Wegen bestehender Steuerschulden pfändete der Beklagte unter anderem den Arbeitslohn des Klägers bei dessen Arbeitgeber. Mit seiner Drittschuldnererklärung unterrichtete der Arbeitgeber den Beklagten darüber, dass von dem an den Kläger gezahlten Gehalt kein pfändbarer Betrag verbleibe. In der hierzu übermittelten Berechnung berücksichtigte der Arbeitgeber die erwachsenen Töchter des Klägers B und A, die beide ein Hochschulstudium absolvierten, als unterhaltsberechtigte Personen. Der Beklagte forderte den Kläger auf, unter anderem die eigenen Einkünfte der Töchter sowie seine Unterhaltspflicht nachzuweisen. Der Kläger teilte mit, er komme seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nach. Einen Unterhaltstitel dazu gebe es nicht. Unter dem 3. April 2018 erließ der Beklagte zum Aktenzeichen „…” eine Verfügung, in der er anordnete: „Bei der Ermittlung des monatlich pfändbaren Betrages gilt keine Unterhaltsberechtigung, weder für die Kinder noch für die Ehefrau”. Die Anordnung erging ohne Rechtsbehelfsbelehrung. Zur Begründung teilte der Beklagte dem Kläger unter anderem mit, A beziehe Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG), wobei hinsichtlich der Unterhaltspflicht der Kindesmutter keine Aussage getroffen werde. Die Tochter B wohne bei der Mutter. Damit werde angenommen, dass die Mutter B Naturalunterhalt leiste. Unterhaltszahlungen des Klägers an B seien nicht nachgewiesen.
Mit Schreiben vom 2. Oktober 2018, das beim Beklagten am 5. Oktober 2018 einging, trug der Kläger vor, er habe bereits am 10. April 2018 ein Rechtsmittel eingelegt und ergänze dieses nunmehr mit aktuellen Daten ab Oktober 2010. Die Verfügung vom 3. April 2018 sei falsch. A habe im Februar 2018 nur für ein paar Wochen ein Entgelt für ein studentisches Praktikum erhalten. Sie beziehe BAföG und erhalte Kindergeld in Höhe von 194,– EUR monatlich. Hierzu reichte der Kläger einen auf den 19. September 2018 datierten BAföG-Bescheid für A ein, wonach diese von Oktober 2018 bis September 2019 einen Förderungsbetrag von monatlich 21,– EUR erhalten sollte. Der Bescheid enthält eine Berechnung, nach der auf einen Grundbedarf für A in Höhe von monatlich 649,– EUR Einkommen des Klägers in Höhe von 241,49 EUR monatlich sowie Einkommen der Kindesmutter von monatlich 386,68 EUR angerechnet wurden, so dass sich der angegebene Förderbetrag ergab. Unter dem 12. Oktober 2018 erließ der Beklagte zum Aktenzeichen „…” eine Änderungsverfügung. „Ab sofort bis einschließlich September 2019” sei „vorerst folgende Anordnung zu beachten”: „Berücksichtigung der hälftigen Unterhaltsberechtigung für die Tochter A geb. … bei der Berücksichtigung des pfändbaren Betrages”. Der Arbeitgeber des Klägers legte eine Bescheinigung vor, in der der Kläger angegeben hatte, er zahle einem unterhaltsberechtigten Kind Unterhalt, das nicht in seinem Haushalt lebe. Auf Drängen des Beklagten überwies der Arbeitgeber schließlich für den Zeitraum von Oktober bis Dezember 2018 einen Pfändungsbetrag von insgesamt 405,51 EUR. Der Kläger trug vor...