Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch setzt Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt des Anspruchstellers im Inland voraus
Leitsatz (redaktionell)
Ein Kindergeldanspruch nach § 62 EStG setzt eine tatsächliche Steuerpflicht des Anspruchstellers voraus, die nur aufgrund einer tatsächlichen Wohnsitznahme oder eines tatsächlich durchgeführten gewöhnlichen Aufenthalts vermittelt wird; eine etwa durch Art. 60 VO (EG) 987/2009 vermittelte Wohnsitzfiktion genügt nicht.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1; EGV 987/2009 Art. 60
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung von Kindergeld.
Die Klägerin ist polnische Staatsbürgerin, die zusammen mit ihren beiden Töchtern in Polen wohnt. Nach eigenen Angaben hat sie sich im Herbst 2020 vom Kindesvater getrennt, der in Deutschland wohnen soll. Seit April 2021 – so die Klägerin – leite dieser das Kindergeld nicht mehr an sie weiter. Unter Verweis hierauf hat sie bei der Beklagten die Gewährung des Kindergeldes an sich selbst beantragt. Die Beklagte hat den Antrag mit dem angefochtenen Verwaltungsakt abgelehnt und den hiergegen gerichteten Einspruch zurückgewiesen.
Die Klägerin begehrt das Kindergeld für den Zeitraum ab April 2021 und trägt vor, die Beklagte schaffe künstliche bürokratische Barrieren, um die Auszahlung des Kindergeldes zu verhindern.
Die Klägerin hat keinen Klageantrag gestellt.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Kindesvater sei ein aus Polen entsandter Arbeitnehmer, der gemäß Art. 12 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 883/2004 ausschließlich in die Zuständigkeit des Entsendestaates Polen falle. Ein fiktiver Wohnsitz der Klägerin nach Maßgabe von Art. 60 der VO (EG) Nr. 987/2009 ergebe sich daraus nicht.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die eingereichten Schriftsätze sowie die zum Streitfall übermittelte elektronische Kindergeldakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat keinen Erfolg.
Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) hat Anspruch auf Kindergeld, wer in Deutschland einen Wohnsitz und/oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Die Klägerin hatte im Streitzeitraum jedoch weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Eine Wohnsitzfiktion, die sich etwa aus der Regelung in Art. 60 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ergeben könnte, ist für die Gewährung des Kindergeldes nicht ausreichend. § 62 EStG setzt vielmehr eine tatsächliche Steuerpflicht voraus, die nur aufgrund einer tatsächlichen Wohnsitznahme oder eines tatsächlich durchgeführten gewöhnlichen Aufenthalts vermittelt wird.
Dies ergibt sich zum einen daraus, dass das Kindergeld gemäß § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlt wird. Eine Steuervergütung kann indessen nur erhalten, wer in Deutschland auch tatsächlich zur Einkommensteuer veranlagt werden könnte. Des Weiteren sind die in § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG normierten Anforderungen wortidentisch mit den Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG zur unbeschränkten Steuerpflicht in Deutschland; im Übrigen verweist § 62 Abs. 1 Satz 1 EStG explizit auf Tatbestände des § 1 EStG. Dass die Anspruchsberechtigung nach § 62 EStG eine echte Steuerpflicht der Kindergeldberechtigten voraussetzt, ergibt sich schließlich ferner daraus, dass der Gesetzgeber für den Zeitraum ab 2016 das Erfordernis einer steuerlichen Identifikationsnummer im Sinne von § 139b der Abgabenordnung (AO) als Voraussetzung für die Kindergeldgewährung in den Gesetzestext des § 62 EStG aufgenommen hat. Eine Identifikationsnummer wird gemäß § 139a AO an „Steuerpflichtige” vergeben. Das sind Personen, die in Deutschland tatsächlich zu besteuern sind (zum Ganzen: Urteil des Sächsisches Finanzgerichts vom 24. September 2018, 6 K 1514/17 (Kg)).
Bestätigt wird dies ferner durch die mit Wirkung für Kindergeldzeiträume ab August 2019 eingeführte Regelung in § 62 Abs. 1a EStG. Danach haben Antragstellende aus dem EU-Ausland mit Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland nur noch dann Anspruch auf Kindergeld, wenn sie die Voraussetzungen der § 2 Abs. 2 und 3 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) erfüllen. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass vom Kindergeld eine nicht beabsichtigte Anreizwirkung für einen Zuzug aus anderen Mitgliedsstaaten ausgehe; daher werde der Kindergeldanspruch für nicht erwerbstätige Unionsbürger eingeschränkt. Die Abhängigkeit des Kindergeldes von einem für die Leistungsgewährung ausreichenden Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmerin bzw. Selbstständiger werde konkretisiert (vgl. Begründung zum Gesetzen...