Rz. 10
Im Verlauf der Diskussion im Vorfeld der Einführung der MwSt in Deutschland zum 1.1.1968 war zunächst zwar mehrfach die Forderung nach einem einheitlichen Steuersatz erhoben worden. Der Vorteil eines einheitlichen Steuersatzes läge in erster Linie in seinem Vereinfachungseffekt, weil zahlreiche Abgrenzungsschwierigkeiten, die mit jeder Differenzierung zwangsläufig verbunden sind, vermieden worden wären und insbesondere die Technik der Rechnungserteilung und Aufzeichnungen wesentlich einfacher gewesen wäre. Im Übrigen hätte ein einheitlicher Steuersatz erheblich unter dem damaligen allgemeinen Steuersatz (10 %) liegen können, ohne das Steueraufkommen zu gefährden. Die Forderung nach einem einheitlichen Steuersatz ließ sich jedoch nicht realisieren. Denn aus sozialpolitischen Gründen sah es der Gesetzgeber seinerzeit als erforderlich an, die bei nur einem Steuersatz eintretende Regressionswirkung der USt durch Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes für bestimmte Güter des lebensnotwendigen Bedarfs zu mildern. Zur Regressionswirkung der USt im Rahmen des geltenden Zweisatzsystems s. Rz. 20.
Rz. 11
Im Jahr 2004 hat das BMF dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH (ZEW) den Auftrag erteilt, die Allokations- und Verteilungseffekte einer Abschaffung des ermäßigten Steuersatzes in Deutschland zu untersuchen. Hintergrund waren offensichtlich Überlegungen im BMF, den ermäßigten Umsatzsteuersatz abzuschaffen und die daraus resultierenden Umsatzsteuermehreinnahmen für Minderungen der ESt und/oder der Sozialbeiträge auf Arbeitslöhne zu verwenden. Das Institut kam in seiner Studie vom Oktober 2004 u. a. zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass der Wegfall des ermäßigten Steuersatzes zu einer höheren Ausgabenbelastung aller Haushalte führen werde. Allerdings ergäben sich kaum verteilungspolitische Effekte in dem Sinne, dass einkommensschwache Haushalte gegenüber einkommensstarken Haushalten wesentlich mehr belastet würden. Bei einer Finanzierung von Senkungen der Ertragsteuern und/oder von Sozialbeiträgen durch die Abschaffung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes würden die Bezieher geringer Einkommen relativ zu den Beziehern höherer Einkommen Verluste (im Vergleich zur bestehenden Rechtslage) erleiden. Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) hat am 10.9.2014 eine Untersuchung vorgelegt, die zum Ergebnis kommt, dass eine aufkommensneutrale Abschaffung des ermäßigten Steuersatzes zugunsten eines einheitlichen Steuersatzes von 16,7 % möglich wäre. Die Mehrbelastung der Geringverdiener (zugrunde gelegt wird dabei ein Zehntel der Bevölkerung mit dem geringsten Einkommen) von ca. 265 EUR jährlich, die regressionsbedingt einträte, könnte durch eine Erhöhung des einkommensteuerlichen Grundfreibetrags ausgeglichen werden. Die Angehörigen des obersten Zehntels der Bevölkerung würden mit zusätzlicher USt von 1.119 EUR jährlich belastet werden.
Rz. 12
Auf der Basis der Steuerschätzung vom Mai 2017 geht die Bundesregierung von umsatzsteuerlichen Mehreinnahmen im Entstehungsjahr 2017 bei kompletter Abschaffung des ermäßigten Steuersatzes und gleichzeitiger Beibehaltung des allgemeinen Steuersatzes von 19 % nach einer groben Schätzung von 30,6 Mrd. EUR aus. Bei dieser Schätzung seien Änderungen im Konsumverhalten aufgrund einer Erhöhung des bisher ermäßigten Umsatzsteuersatzes nicht berücksichtigt worden. Sie seien aber auch nicht auszuschließen. Die möglichen Steuermehreinnahmen würden hauptsächlich auf folgende ermäßigt besteuerte Leistungen entfallen: Nahrungsmittel, Milch, Trinkwasser (inklusive Tee, Kaffee, exklusive alkoholische Getränke) mit 21,1 Mrd. EUR, Presseartikel (Bücher inklusive Hörbücher, Zeitungen, Zeitschriften) mit 2,9 Mrd. EUR, Personenbeförderungen im Nahverkehr mit 1,4 Mrd. EUR und Beherbergungsleistungen mit 1,3 Mrd. EUR.
Rz. 13
Die Überlegungen zur Abschaffung des ermäßigten Steuersatzes bzw. zur Einführung eines einheitlichen Steuersatzes sind nicht mehr weiter verfolgt worden.
Zwar sah die von Herbst 2009 bis Herbst 2013 amtierende Bundesregierung (CDU/CSU und FDP) entsprechend dem Koalitionsvertrag Handlungsbedarf beim ermäßigten Steuersatz und hatte eine Kommission eingesetzt, die sich mit dem Katalog von Waren und Dienstleistungen, die dem ermäßigten Steuersatz unterliegen, befassen sollte. Diese Kommission hat jedoch ihre Arbeit trotz zahlreicher Kritik an ihrer Untätigkeit aus der Wissenschaft, der Literatur sowie des Bundesrechnungshofs nicht aufgenommen, sodass es bis zum 31.12.2022 bei dem Zwei-Steuersatz-System (ab 1.1.2023 ergänzt durch einen Nullsteuersatz nach § 12 Abs. 3 UStG) geblieben ist. Im Koalitionsvertrag vom November 2013 für die 18. Legislaturperiode (CDU/CSU und SPD) ist von grundsätzlichem Änderungsbedarf beim ermäßigten Steuersatz nicht mehr die Rede. Die Vorsitzende des Finanzausschusses des Deutschen Bundestags Ingrid Arndt-Brauer hatte zwar im Frühjahr 2014 gefordert, einen einheitlichen USt-Satz von 16 % ausnahmslos auf alle...