Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
1. Wird bei einem schwerbehinderten Menschen der Grad der Behinderung von 80 oder mehr auf weniger als 50 herabgesetzt, ist dies einkommensteuerrechtlich ab dem im Bescheid genannten Zeitpunkt zu berücksichtigen. Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte sowie Familienheimfahrten im Rahmen einer doppelten Haushaltsführung können daher nicht mehr nach § 9 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 EStG bemessen werden. Es bedarf keiner grundsätzlichen Klärung, dass § 116 Abs. 1 SGB IX oder § 38 Abs. 1 SchwbG im Steuerrecht nicht anzuwenden ist.
2. § 9 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 EStG ist keine Schutzvorschrift für Schwerbehinderte i.S.d. § 38 Abs. 1 SchwbG bzw. besondere Regelung für schwerbehinderte Menschen i.S.d. § 116 Abs. 1 SGB IX.
Normenkette
§ 9 Abs. 2 Satz 3 EStG, § 116 Abs. 1 SGB IX, § 38 Abs. 1 SchwbG
Sachverhalt
Bei K war durch Bescheid vom Mai 1994 ein Behinderungsgrad von 80 anerkannt. Mit Änderungsbescheid vom Dezember 1999 wurde der Behinderungsgrad auf 20 herabgesetzt, Rechtsmittel dagegen blieben erfolglos. K hatte aber in allen Streitjahren noch den Schwerbehindertenausweis, der einen Behinderungsgrad von 80 auswies. Das FA legte dennoch ab dem Jahr 2000 einen Behinderungsgrad von 20 zugrunde, sodass für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte nur noch die Entfernungspauschale (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG) galt. K machte dagegen erfolglos (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21.3.2013, 4 K 1032/10, Haufe-Index 6758280) geltend, dass ihm ausweislich des noch bis 30.6.2007 gültigen Schwerbehindertenausweises ein Behinderungsgrad von 80 zuzuerkennen sei. Der Änderungsbescheid vom Dezember 1999 stehe dem nicht entgegen. Denn gem. § 38 Abs. 1 SchwbG und § 116 Abs. 1 SGB IX gelte der alte Behinderungsgrad jedenfalls noch bis Ende April (dritter Monat nach Unanfechtbarkeit des neuen Bescheids).
Entscheidung
Der BFH sah, wie in den Praxis-Hinweisen erläutert, weder klärungsbedürftige Rechtsfragen noch einen Verfahrensfehler und ließ daher die Revision nicht zu.
Hinweis
K hatte sich mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gewandt. Dazu hatte er vermeintlich klärungsbedürftige Rechtsfragen aufgeworfen und Verfahrensfehler geltend gemacht.
1. Bei Widerspruch zwischen Neufeststellungsbescheid und dem noch anderslautenden (alten) Schwerbehindertenausweis gilt der Feststellungsbescheid. Das ist ein Anwendungsfall des § 171 Abs. 10 AO. Die Neufeststellung in Form des Grundlagenbescheids wirkt auf den Zeitpunkt der Neufeststellung. Bei einer Herabsetzung des Behinderungsgrades unter den maßgeblichen Grad des § 9 Abs. 2 Satz 3 EStG besteht kein Anlass mehr, noch die tatsächlichen Kosten statt der Entfernungspauschale anzusetzen.
2. Es gibt zwar den sozialrechtlichen Nachwirkungszeitraum (§ 38 Abs. 1 SchwbG, § 116 Abs. 1 SGB IX). Dieser wird sozialrechtlich damit begründet, dass schwerbehinderte Menschen nach Absinken des Behinderungsgrades auf unter 50 "von heute auf morgen" einer sozial bedenklichen Situation gegenüberstehen. Die einkommensteuerrechtliche Kategorie der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit und dem Gebot steuerlicher Lastengleichheit fordert das aber nicht.
3. Der BFH sah schließlich auch keinen Verfahrensfehler. Das FG hatte Ks Klage gegen die Festsetzung von Zinsen als unzulässig abgewiesen. Grundlage dafür war, dass K im Einspruchsverfahren nichts gegen die Zinsfestsetzungen vorgebracht hatte. Deshalb legte das FG den Einspruch dahin gehend aus, dass er sich nur auf die ESt-Festsetzungen selbst erstrecke. Folgerichtig war dann die Klage gegen die Zinsen mangels Vorverfahren unzulässig. Der Fall zeigt insoweit anschaulich, dass der (noch) in Papierform übersandte Bescheid regelmäßig nicht nur den Einkommensteuerbescheid, sondern mehrere Bescheide enthält (Sammelbescheid) und wie bei einer Klage "dagegen" der konkrete Verfahrensgegenstand durch Auslegung zu ermitteln ist (dazu BFH, Urteile vom 19.8.2013, X R 44/11, BFH/NV 2014, 594, BFH/PR 2014, 172; vom 8.5.2008, VI R 12/05, BFH/NV 2009, 238, BFH/PR 2009, 110).
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 11.3.2014 – VI B 95/13