Leitsatz

1. Die Fähigkeit des volljährigen behinderten Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs seines gesamten existenziellen Lebensbedarfs einerseits und der finanziellen Mittel – seiner Einkünfte und Bezüge – andererseits zu prüfen; das Vermögen des Kindes bleibt dabei unberücksichtigt (ständige Rechtsprechung).

2. Bezieht ein behindertes volljähriges Kind eine Rente, die durch Vermögensumschichtung begründet wurde – hier: Einzahlung der dem Kind von einem Kindergeldberechtigten zweckgebunden zugewandten Mittel in einen privaten Versicherungsvertrag –, so sind die den Ertragsanteil übersteigenden Teile der Rentenzahlungen nicht als Bezug zu berücksichtigen.

 

Normenkette

§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa und bb EStG

 

Sachverhalt

Der im Jahr 1961 geborene Sohn (S) des Klägers ist seit 1980 behindert; ab 1.1.2018 wurde ein Grad der Behinderung von 80 festgestellt. Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit scheidet aus. S bezieht seit dem 1.2.2017 eine Rente und Einnahmen aus Kapitalvermögen. Die Rente wird lebenslänglich aufgrund eines Vertrages gezahlt, auf den S zum Vertragsbeginn per 1.1.2017 einen Einmalbeitrag i.H.v. 400.000 EUR entrichtet hatte. Dazu verwendete er 379.820 EUR, die nach dem Tode seiner Mutter mit dem Verwendungszweck "wg Erbsch. Testament" am 9.11.2016 auf sein Konto überwiesen worden waren und mit denen er aufgrund einer testamentarischen Zweckbindung eine private Rentenversicherung zu begründen hatte. Die weiteren 20.180 EUR für die am 2.1.2017 vorgenommene Überweisung an den Rentenversicherer stammten aus bereits vorher vorhandenen eigenen Mitteln des S. Die Familienkasse hob die Kindergeldfestsetzung u.a. ab April 2021 auf, weil S seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten könne, und wies die dagegen gerichteten Einsprüche zurück. Das FG (FG Baden-Württemberg, Urteil vom 14.4.2022, 1 K 2137/21, Haufe-Index 15172914) gab der Klage hinsichtlich des im Revisionserfahren noch streitigen Zeitraums April bis Juli 2021 statt.

 

Entscheidung

Der BFH wies die Revision der Familienkasse als unbegründet zurück, da das FG zu Recht davon ausgegangen war, dass sich das Kind im streitigen Zeitraum nicht selbst unterhalten konnte.

 

Hinweis

1. Für volljährige behinderte Kinder kann ein lebenslanger Kindergeldanspruch bestehen, wenn die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist und das Kind behinderungsbedingt nicht in der Lage ist, sich selbst zu unterhalten. Die Altersgrenze wurde ab dem VZ 2007 vom 27. auf das 25. Lebensjahr abgesenkt. Ist die Behinderung vor dem 1.1.2007 in der Zeit ab der Vollendung des 25. und vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten, gilt aufgrund einer Übergangsregelung die alte Altersgrenze.

2. Ob das Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, bestimmt sich nach einer Vergleichsrechnung, bei der der Bedarf des Kindes den dem Kind zur Verfügung stehenden Mitteln gegenübergestellt wird. Die Vergleichsrechnung ist grundsätzlich monatsweise durchzuführen, da die Anspruchsvoraussetzungen für das Kindergeld (§ 66 Abs. 2 EStG) und den Kinderfreibetrag (§ 32 Abs. 6 Satz 5 EStG) monatsweise zu prüfen sind.

3. Die dem Kind zur Verfügung stehenden Mittel sind zum einen die Einkünfte i.S.d. EStG, zum anderen aber auch sonstige Bezüge. Bezüge sind grundsätzlich alle Zuflüsse in Geld oder Naturalleistungen, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst werden, also nicht steuerbare oder für steuerfrei erklärte Einnahmen. Deshalb sind auch laufende oder einmalige Geldzuwendungen von dritter Seite zu berücksichtigen, soweit sie nicht der Kapitalanlage dienen, sondern den Unterhaltsbedarf des Kindes decken oder die Berufsausbildung sichern und damit die Eltern bei ihren Unterhaltsleistungen entlasten sollen.

4. Laufende oder einmalige Geldzuwendungen der kindergeldberechtigten Eltern sind auch dann keine Bezüge, wenn sie den Unterhaltsbedarf des Kindes decken sollen. Denn das sind gerade die Unterhaltslasten, die durch das Kindergeld oder die kindbedingten Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG steuerlich berücksichtigt werden sollen.

5. Auch das Vermögen des Kindes zählt nicht zu dessen Bezügen, auch wenn das Kind nach den zivilrechtlichen Unterhaltsregelungen (§ 1602 Abs. 1 BGB; anders dagegen beim minderjährigen Kind nach § 1602 Abs. 2 BGB) von den unterhaltspflichtigen ­Eltern darauf verwiesen werden kann, zunächst auch auf sein eigenes Vermögen zurückzugreifen. Hintergrund ist, dass das Vermögen in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG – anders als in § 33a Abs. 1 Satz 3 EStG – nicht genannt ist (BFH, Urteil vom 19.8.2002, VIII R 17/02, BFH/NV 2002, 1666, Haufe-Index 848103).

6. Vom Kind bezogene Renten gehören zu dessen Einkünften, soweit sie mit ihrem Besteuerungsanteil gemäß § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG oder ihrem Ertragsanteil gemäß § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb EStG der Besteuerung unterliegen; im Übrigen zählen sie grundsätzlich zu den Bezügen (z.B. bei einer Waisen...

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