Auszahlung einer Lebensversicherung an ein behindertes Kind
Hintergrund: Auszahlung einer Lebensversicherung
Streitig war der Kindergeldanspruch für ein volljähriges behindertes Kind, das die Auszahlung einer einmaligen Kapitalleistung aus einer Rentenversicherung mit Gewinnbeteiligung (Altvertrag) wählte und erhielt.
Die Mutter (M) bezog für ihren 1964 geborenen Sohn (S) Kindergeld. Dieser ist seit seiner Geburt behindert. Er erhielt im Streitzeitraum Juli bis November 2019 u.a. eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Seit 1983 war S Versicherungsnehmer (und versicherte Person) eines Rentenversicherungsvertrags mit Gewinnbeteiligung. Die Beitragszahlungspflicht endete zum 1.6.2019. Zu diesem Zeitpunkt erhielt S (statt einer monatlichen Rente) eine einmalige Kapitalleistung aus der Versicherung von 77.000 EUR.
Im Hinblick auf die Kapitalauszahlung hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung ab 1.7.2019 auf. S sei damit in der Lage, seinen Lebensunterhalt selbst zu finanzieren.
Das FG gab der Klage mit der Begründung statt, S sei aufgrund seiner Behinderung nach wie vor außerstande gewesen, sich selbst zu unterhalten. Er könne seinen Grundbedarf und behinderungsbedingten Mehrbedarf aus eigenen Mitteln nicht vollständig bestreiten. Die Kapitalleistung aus der Versicherung ändere hieran nichts. Denn das Vermögen sei bei der Prüfung der zur Verfügung stehenden Mittel nicht zu berücksichtigen. Bei der Versicherungsleistung handele es sich lediglich um eine Vermögensumschichtung.
Entscheidung: Berücksichtigung erwirtschafteter Beträge
Auf die Revision der Familienkasse hob der BFH das FG-Urteil auf und verwies den Fall an das FG zurück. Bei der Auszahlung der Beträge, die das Kind oder der Kindergeldberechtigte zuvor angespart haben, handelt es sich um eine reine Umschichtung von Vermögen. Dagegen sind die Beträge, die die Versicherung erwirtschaftet hat, bei der Selbstunterhaltsfähigkeit zu berücksichtigende Bezüge, vergleichbar mit Zinsen, die eine Bank mit Sparguthaben erwirtschaftet.
Abgrenzung Einkünfte/Bezüge von Vermögen/Vermögensumschichtungen
Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs des existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits zu prüfen (z.B. BFH v. 27.11.2019, III R 28/17, BStBl II 2021, S. 807). Zu den finanziellen Mitteln des behinderten volljährigen Kindes gehören seine Einkünfte und Bezüge (BFH v. 13.4.2016, III R 28/15, BStBl II 2016, S. 648), d.h. alle Mittel, die zur Deckung seines Lebensunterhalts geeignet und bestimmt sind und ihm im maßgeblichen Zeitraum zufließen.
Nicht dazu gehört jedoch sein Vermögen. Das Vermögen des behinderten Kindes gehört nicht zu den finanziellen Mitteln, die es für den Selbstunterhalt einzusetzen hat. Während Einkünfte und Bezüge im Grundsatz alle finanziellen Mittel sind, die jemandem im maßgeblichen Zeitraum zusätzlich zufließen, die er also wertmäßig dazu erhält, ist Vermögen das, was er vor diesem Zeitraum bereits hatte.
Zahlungen auf eine bestehende Forderung
Zahlungen auf eine bestehende Forderung nehmen allerdings eine Sonderstellung ein. Obwohl sie eine Vermögensumschichtung beinhalten, soweit durch die Zahlung eine Forderung erlischt, werden sie nicht stets als reine Vermögensumschichtung behandelt. Andernfalls wären alle Zahlungen (auch Lohnzahlungen, Rentenzahlungen usw.), auf die das behinderte Kind einen Anspruch hat, als Vermögensumschichtungen zu behandeln und nicht als Einkünfte und Bezüge anzusetzen. Das wäre mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar.
Dementsprechend ist bei der Erfüllung einer Forderung durch Auszahlung der Gesichtspunkt der Vermögensumschichtung für die Abgrenzung von Einnahmen und Vermögen unerheblich. Das gilt allerdings nicht, wenn mit bereits erlangten Einkünften Vermögen angespart wurde. Denn andernfalls wertete man den Rückgriff auf Erspartes unzulässig erneut als Einkommen (BVerwG v. 18.2.1999, 5 C 35/97, BVerwGE 108, S. 296, Rz. 17).
Unterscheidung zwischen angesparten und erwirtschafteten Auszahlungen
Hiervon ausgehend ist das FG fälschlich davon ausgegangen, dass die Zahlung der Versicherung insgesamt eine reine (nicht beim Selbstunterhalt zu berücksichtigende) Vermögensumschichtung darstellt. Denn nur bei den Beträgen, die das Kind (oder der Kindergeldberechtigte) zuvor angespart hat, handelt es sich um die Auszahlung von Vermögen. Dagegen handelt es sich bei den Beträgen, die die Versicherung erwirtschaftet hat, um bei der Selbstunterhaltsfähigkeit zu berücksichtigende Bezüge, vergleichbar mit Zinsen. Dass S einen Anspruch auf die Versicherungssumme hatte, der durch Auszahlung erloschen ist, ist als Vermögensumschichtung irrelevant.
Zurückverweisung an das FG
Das FG hat zu ermitteln, in welchem Umfang dem Kind ein erwirtschafteter Bezug zugeflossen ist, der sich im streitigen Zeitraum kindergeldschädlich auswirken kann. Dabei ist der Sparanteil, der sich aus den eingezahlten Beträgen speist, von der Versicherungssumme abzuziehen. Hierbei handelt es sich nach den Grundsätzen des abgekürzten Zahlungswegs um Sparleistungen des S, auch wenn die Beträge von der M an die Versicherung überwiesen wurden.
Hinweis: Verteilung einer Nachzahlung
Im Streitzeitraum können nur Bezüge kindergeldschädlich sein, die S nicht bereits in einem früheren Veranlagungszeitraum zugeflossen sind. Dies kommt in Betracht, wenn in der Vergangenheit fällige und liquide Forderungen bewusst nicht geltend gemacht, sondern angespart wurden (BVerwG v. 18.2.1999, 5 C 35/97, BVerwGE 108, S. 296, Rz. 17) oder Zinsen und Überschüsse mit zu zahlenden Beiträgen verrechnet wurden (vgl. BMF v. 1.10.2009, BStBl I 2009, 1172, Rz 13 ff., 45 f.).
Der danach verbleibende Teil der im Juni 2019 ausgezahlten Versicherungsleistung ist auf den Zuflussmonat und die folgenden Monate des Zuflussjahrs zu verteilen (BFH v. 4.11.2003, VIII R 43/02, BStBl II 2010, S. 1046).
BFH Urteil vom 15.12.2021 - III R 48/20 (veröffentlicht am 28.04.2022)
Alle am 28.04.2022 veröffentlichten Entscheidungen des BFH mit Kurzkommentierungen.
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