Für Detailkritik bietet das Conceptual Framework zahlreiche Angriffspunkte. Hier nur ein Beispiel: unklar ist die Rolle der Vorsicht, die angeblich der Neutralität und damit Tatsachentreue der Darstellung dienen soll. Da es explizit um eine symmetrische Vorsicht geht – man könnte auch sagen um eine "neutrale Vorsicht" – stellt sich die Frage, ob dies nicht schon der Neutralitätsforderung begrifflich innewohnt. Welchen zusätzlichen Nutzen das Vorsichtsprinzip dann haben soll, bleibt rätselhaft. Für die Praxis des Standardsetting konzediert der IASB aber ohnehin eine fortdauernde Bedeutung des Vorsichtsprinzips und hält sich mit folgender Begründung diese Tür offen: "Nevertheless, particular Standards may contain asymmetric requirements if this is a consequence of decisions intended to select the most relevant information that faithfully represents what it purports to represent" (CF.2.17). Der Konsistenz erwartende Leser bleibt irritiert zurück.
Eine Fundamentalkritik kann von einem einfachen deskriptiven Befund ausgehen: Die amerikanische Verfassung, also die Grundlage für die politische und gesetzliche Ordnung der Vereinigten Staaten kommt unter Einschluss von in zweieinhalb Jahrhunderten ergangenen 27 Verfassungszusätzen immer noch mit weniger als 8.000 Wörtern aus. Das Conceptual Framework als Grundlage für die Entwicklung der "gesetzlichen" Ordnung der Rechnungslegung, also für ein im Vergleich zur Gesetzesordnung eines ganzen Staats eher mikroskopisches Sujet, weist schon im Haupttext (also ohne die Basis for Conclusions) etwa das fünffache Volumen aus. Im deskriptiven Vergleich wirkt dies weitschweifig. Die Ursachen dieser Weitschweifigkeit liegen in der Unwilligkeit des IASB, sich auch selbst – wie vom Anwender verlangt – auf das Wesentliche (materiality) zu beschränken. Wenn die Zielsetzung des Conceptual Framework ist, Leitlinien für die Entwicklung der Standards (Standardsetter), deren Anwendung (Unternehmen) und deren Verständnis (Bilanzadressaten) zu liefern (CF.SP1.1), dann wäre bei jeder Passage zu fragen, welchen Beitrag sie hierzu tatsächlich leistet. Diese Frage hat sich der IASB offenbar nicht gestellt. Stattdessen hat er ein Dokument formuliert, das zum großen Teil der Demonstration dient, in alle Richtungen gedacht, alle Vorschläge von außen bedacht und alle Eventualitäten berücksichtigt zu haben.
Zu allem Überfluss legt der IASB auch noch selbst Hand an die Legitimität seines Rahmenkonzepts, wenn er sich in CF.SP.13 selbst gestattet, "sometimes [to] specify requirements that depart from aspects of the Conceptual Framework". Eine Verfassung, von der das gesetzgebende Organ, der Standardsetter, selbst bei Bedarf auch abweichen kann, ist ein erstaunliches Konstrukt, das mit Sicherheit einem nicht dient: dem Vertrauen darauf, dass es bei der Entwicklung von Einzelstandards konzeptionell mit rechten Dingen zugeht. Wer sich als Regelgeber selbst einen Dispens von seinen Konzepten gewährt, tut der Legitimation des Conceptual Framework einen Bärendienst.