Dr. Matthias Nagel, Prof. Dr.-Ing. Ralph Riedel
Bei der Havarie der "Ever Given" kann man bei den 20.000 Containern von einer erheblichen Anzahl gebrochener Lieferketten ausgehen. Durch den Infarkt auf dem 193 Kilometer langen Suezkanal (vgl. Abbildung 1 Links) verursacht die Havarie durch den "Flaschenhalseffekt" aber weitaus mehr:
- In fast einer Woche stauten sich 422 Schiffe an den Zufahrtsstellen des Suezkanals, darunter Containerschiffe und Tanker. Nach Lloyd’s List kostet die Verzögerung von Waren die Weltwirtschaft rund 400 Millionen US-Dollar pro Stunde.
- Der Stau im Suezkanal verschärfte den weltweiten Mangel an Containern und hat nach Berechnungen von Container X-Change allein in Asien und Europa die Menge an verfügbaren Container um 25 Prozent reduziert.
- Betroffen waren auch Zielhäfen in Europa. Als die "Ever Given" wieder flott war, warteten 56 Containerschiffe, 3 Tanker und ein Autotransporter, um über den Suezkanal nach Rotterdam zu fahren.
- Dem "Flaschenhalseffekt" durch die Blockierung des Suezkanals folgte zeitversetzt für den Hinterlandverkehr der Seehäfen ein "Ketchup-Effekt" – erst kommt nichts, dann alles. Da Kapazitäten von vornherein begrenzt waren, wirkt sich der massive Mangel an Laderaum flächendeckend auf den gesamten Industrie- und Handelsbereich aus. Mangelnde Ressourcen im Binnenschifffahrts- und Schienenverkehr erhöhen den Druck auf den Straßengüterverkehr. Staus an der Verladerampe führen zu Verzögerungen und vermehrt zu Leerfahrten.
Aufgrund der Komplexität von Produkten ist es ohne durchgängige Digitalisierung für Hersteller und Händlern schwierig zu überblicken, woher Bestandteile kommen. Störungen in ausgedehnten Lieferketten werden dadurch viel zu spät bemerkt. Endkunden bemerken Brüche in Lieferketten auf der Rohstoffseite ohnehin erst, wenn ein Mangel an fertigen Produkten auftritt.
Die Havarie der "Ever Given" kann somit als Lehrbuchbeispiel für gleich mehrere ökonomische und gesellschaftliche Phänomene dienen:
- dem "Flaschenhalseffekt" als organisatorische Schwachstelle in einer Prozesskette, erkennbar an einer Warteschlange,
- dem "Ketchup-Effekt", der oft dem Flaschenhalseffekt folgt und
- dem "Schneeballeffekt" für sich aufschaukelnde Kettenreaktionen.
Da die Gigantomanie bei Schiffen unverändert anhält und physikalische Gesetze wie die Strömungsmechanik sich nicht überlisten lassen, ist die Wahrscheinlichkeit eines "Korkens" im Suezkanal berechenbar, wodurch auch die Folgen eines solchen Ereignisses bewertbar werden. Der Suezkanal ist nicht das einzige Nadelöhr im weltweiten Warenverkehr. Der nächste "Korken" ist daher nur eine Frage der Zeit, zumal auf Weltmeeren der Schiffsverkehr weiter zunimmt.